We Can Be Heroes

Normale Version: Close To Home (von iesika) | Teil 11/18
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Der Name der Frau war Justine und sie war Daltons Lebenspartnerin. Kon hatte sich noch kurz die Zeit genommen, um sich sein Gesicht am Waschbecken der Kaffeeküche zu waschen und um sich seinen eigenen Pappbecher voll grässlichem Kaffee zu holen, bevor sie zusammen zur Schwesternstation gegangen waren, um die nötigen Unterlagen auszufüllen.

„Ich hab einen Schlüssel, aber wir wohnen nicht zusammen“, sagte sie, als sie den Gang entlang schritten, „Alex hat sich Sorgen gemacht, dass er ins Visier geraten würde, wenn er sich mit diesem dummen Anti-Evolutions-Gesetz anlegt. Ich hab eine Tochter mit meinem Ex-Mann und die meiste Zeit lebt sie bei mir, weshalb wir beide dachten, dass es so sicherer ist. Für sie. Und… Himmel! Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, dass sie letzte Nacht bei ihrem Vater war. Ansonsten hätte ich sie dabei gehabt, als ich dort angekommen bin und—“ Sie seufzte. „Ich dachte ehrlich, er wäre tot“, gab sie leise zu, ihren Kopf gesenkt.

„Es tut mir so leid“, meinte Kon.

Justine schüttelte den Kopf. „Alex würde uns beide zusammenstauchen, wie wir denn überhaupt auf den Gedanken kommen, dass es auf irgendeine Weise deine Schuld sein könnte. Er ist wirklich stolz auf dich, Conner. Darauf, was du tust. Schon die ganze Woche kommt er nach Hause mit Geschichten über diesen brillanten jungen Aktivisten—“

Kon konnte nicht anders als zu lachen. „Brillant? Ich – Nein, ich bin ziemlich sicher, dass er Mel oder so jemanden meint. Ich bin nicht—“

„Und er erzählt, was für eine Bereicherung du für den Unterricht bist. Du hast immer Fragen, an die er bisher noch nie gedacht hat.“

Normalerweise wenn er zuvor gegen riesige Insekten gekämpft hatte oder so. Und er war echt verdammt froh, dass er all die Fragen über Mollusken gestellt hatte. Ihm fiel nur absolut kein Weg ein zu erklären, wie hilfreich es gewesen war zu wissen, dass Tintenfische richtig fucking schlau waren, als er einen von der Größe eines Hauses versucht hatte zu verprügeln.

Weitere Verlegenheiten blieben ihm aber erspart, als sie an der richtigen Tür ankamen. Eigentlich war es ziemlich offensichtlich, jetzt wo sie hier waren, weil es vermutlich nicht viele Türen auf diesem Stockwerk gab, vor denen Polizisten saßen.

„Ma’am“, machte der Typ und seine Hand ging an seine Stirn.

„Das hier ist Conner“, erklärte Justine, „Ich habe ihn gerade erst zum Liste der erlaubten Besucher hinzugefügt.“

„Alles klar“, gab er zurück. Er nickte Kon zu: „Hi, Junge.“

Kon nickte ebenfalls, dann gingen sie hinein.

Oh Gott! Kon hatte Krankenhäuser immer schon gehasst und jetzt wurde ihm auch bewusst warum. Die Geräusche waren alle absolut falsch. Er konnte Daltons Atmung hören und es war – sie war falsch. Feucht und matt und – er gab sich Mühe, es zu ignorieren, aber es fiel ihm schwer. Daltons Herzschlag war schwach und langsam. Kon konzentrierte sich auf das Surren des Beatmungsgeräts, das Piepsen des Monitors, aber das machte es nicht besser. Justines Armbanduhr tickte. Okay. Darauf könnte er sich fokussieren. Tick tick tick.

Justine zog den Vorhang zurück und Kon zwang sich, ans Bett heranzutreten. Himmel, Dalton wirkte so klein. Er war wie eine Mumie in Verbände eingewickelt, mit Gaze um seinen Kopf herum und Schläuchen in seiner Nase und seinen Rachen hinunter. Das, was Kon von seiner Haut sehen konnte, war abwechselnd weiß und blaue Flecken, mit Ausnahme seiner Hände, die knallrot waren, wo seine Finger aus den Verbänden hervor lugten.

„Was ist denn mit seinen Händen passiert?“, fragte Kon heiser.

„Heißes Wasser“, antwortete Justine und klang dabei seltsam stolz, „Der Herd war noch an und über den ganzen Boden war Pasta verschüttet. Die Polizei meint, dass er den Topf wohl als Waffe verwendet hat.“ Sie setzte sich auf einen Stuhl neben dem Bett – dieser hier in einem dezenten Grau gepolstert und sogar mit Armlehnen – und deutete Kon, sich ebenfalls zu setzen. „Die Verbrennungen sind nur oberflächlich – er hat sich lediglich verbrüht.“

Kon zog den zweiten Stuhl näher an das Bett heran und setzte sich. Er wusste einfach nichts mit sich anzufangen. Er war so darauf fokussiert gewesen, hierher zu kommen, dass er an den nächsten Schritt nicht einmal gedacht hatte.

„Er ist nicht aufgewacht“, sagte Justine leise, „Nicht mal für eine Minute oder zwei. Es sind jetzt etwa zwölf Stunden. Die Ärzte haben gesagt… Die meisten Leute wachen gar nicht mehr auf, wenn sie nicht innerhalb der ersten 24 Stunden wach werden.“

Ein Knirschen ließ Kon einen Blick nach unten werfen. Hastig ließ er die Armlehnen los und verschränkte seine Hände in seinem Schoß. „Mein Freund…“, begann er, wobei er versuchte, hoffnungsvoll zu klingen, „Sein Dad lag sechs Monate lang im Koma.“ Natürlich hatte Tim zu jener Zeit Kon nichts davon erzählt – sie hatten sich kaum gekannt. Erst nachdem er das Team verlassen und wieder zurückgekommen war, hatten Tim und er sich überhaupt mal zusammengesetzt und über Tims Familie geredet. „Er musste in Therapie und sowas, aber nach einer Weile ging es ihm wieder gut.“ Kon sah zu Justine auf. Ihre Lippen waren zu einer schmalen Linie zusammen gepresst. „Er hat—“

Justines Gesichtsausdruck wurde etwas weicher. „Er hat…?“

„Geheiratet“, beendete Kon seinen Satz, mit einem Mal unsicher. Er wusste nicht so recht, wie er sich mit der Freundin seines Lehrers über Beziehungen und ähnliches unterhalten sollte. Es fühlte sich ähnlich an, wie wenn Martha wieder Verabredungen hätte oder wie wenn er an all die Male dachte, als er Lois angebaggert hatte.

Justine lächelte, auch wenn Kon eher das Gefühl bekam, dass sie mehr amüsiert als beruhigt war. „Gut zu wissen. Aber – naja, Alex hat eine Patientenverfügung. Wenn er nicht innerhalb von ein paar Tagen ohne Maschine wieder richtig atmen kann…“

„Natürlich atmet er nicht richtig!“, brach es aus Kon heraus, „Seine Rippen sind alle—“ Er hielt inne. „Äh. Abgeklebt.“ Er überprüfte das kurz. Ja, sie waren abgeklebt. Das war gut. Er wollte nicht im Leben versuchen zu beschreiben, wie diese Muskeln klangen, wenn sie sich gegen gebrochene Knochen bewegten.

„Da ist noch mehr, Conner. Ihm wurde ziemlich fest auf den Kopf geschlagen. Er hat den Schlag überlebt, aber er hatte eine Gehirnblutung. Das ist sehr schlecht. Die Blutung hat aufgehört, aber wir können nicht sicher sein, wie viel Schaden wirklich angerichtet worden ist, bis die Schwellung kleiner wird. Er ist noch nicht aus dem Gröbsten heraus. Sie haben Shunts eingesetzt, für den Druck, aber das Risiko für Sekundärverletzungen ist immer noch vorhanden. Er könnte einen Schlaganfall haben.“ Sie sah zu Kon auf. „Ich will, dass er wieder aufwacht. Natürlich will ich, dass er wieder aufwacht. Ich will, dass er jetzt, in diesem Moment, aufwacht. Aber wenn er das nicht tut… Alex würde nicht so dahinvegetieren wollen. Verstehst du?“

Kon beobachtete, wie Daltons Bauchdecke sich in einer kruden Imitation menschlicher Atmung hob und senkte. Niemand atmete so regelmäßig. Nicht einmal Tim. Nicht einmal, wenn er schlief. „Wenn er jetzt wach wäre, würde er wahrscheinlich sagen, dass er keine Photosynthese betreiben kann.“

Er vernahm ein seltsames Geräusch und drehte den Kopf. Justine hatte beide Hände vor den Mund geschlagen und schien gleichzeitig zu lachen und zu weinen. „Ja, würde er“, keuchte sie und biss sich auf die Handknöchel.

Kon teilte seine Taschentücher mit ihr – nicht die durchnässten, sondern die Handvoll, die er sicherheitshalber noch in seine Tasche gesteckt hatte. „Kann ich irgendwas für Sie tun?“

Sie schniefte. „Du bist wirklich nett. Aber außer du bringst mir den Kopf von diesem Bastard, der das hier getan hat…“

Kon versuchte es ja. Aber… Scheinbar nicht hart genug. Diese Einsicht traf ihn mit einem schmerzhaften Stich von Wut und Selbsthass. Matts Mörder war schon seit über eine Woche auf freiem Fuß und jetzt hatte er wieder zugeschlagen. Wenn Kon ihn nur früher geschnappt hätte. Wenn er nur härter daran gearbeitet hätte. Wenn er nur mehr Zeit mit dem Fall verbracht hätte, anstatt verdammte Tomaten zu pflanzen. Wenn er nur Tim nicht die halbe Nacht von seiner Laborarbeit abgelenkt hätte—

„Kann ich eine Minute mit ihm allein haben?“, fragte Kon.

Justine warf ihm einen eigenartigen Blick zu, nickte jedoch und stand auf. „Kaffee?“, fragte sie.

Kon schüttelte den Kopf, dass er keinen wollte. Sobald sie das Krankenzimmer verlassen hatte, stand er auf und hob vorsichtig Daltons einbandagierte Hand an, umschloss sie mit seinen beiden. „Tim sagt ja, Leute, die im Koma liegen, können einen nicht wirklich hören.“

Natürlich antwortete Dalton nicht. Der mechanische Rhythmus seines Atems veränderte sich nicht. Seine Lider flatterten nicht. Sein Puls blieb gleichmäßig. Er schloss nicht ebenfalls seine Finger um Kons.

„Vielleicht ist das was Gutes? Ich weiß nicht. Ich sollte das hier nicht tun, nur für den Fall, dass... Aber…“ Kon nahm einen tiefen, zittrigen Atemzug. „Ich kriege diesen Bastard. Okay? Ich werde—“ Er brach ab, als sich sein Kopf mit grausigen Rachefantasien füllte – gebrochene Knochen, eingeschlagene Gesichter, gebrochene Genicke. Er schloss seine Augen gegen die plötzliche Woge von Rot, auch wenn er sie selbst mit geschlossenen Lidern noch sah. „Ich verspreche Ihnen, dass er niemanden mehr verletzt. Ich verspreche es.“

Die Maschinen surrten weiter. Kon stand eine Weile einfach nur so da, spürte Daltons Blut durch seine Finger pochen. Es war das Einzige, das sich an ihm immer noch richtig und lebendig anfühlte.

Als Kon das leise Tappen strumpfsockiger Füße auf dem Gang hörte, öffnete er das Fenster und schlüpfte hinaus, bevor er es hinter sich wieder schloss.

Der Handyempfang auf dem Dach war bescheiden, weshalb er erneut im Park landete, bevor er Tim anrief. „Ich brauch die Ergebnisse“, legte Kon sofort los, als Tim abhob, ohne ihm die Möglichkeit zu geben etwas zu sagen.

Tims Seufzen toste wie statisches Rauschen in seinen Ohren. „Ich bin beim dritten Durchgang.“

„Was?“

„Ich war die ganze Nacht wach. Den ersten Satz Ergebnisse hatte ich kurz nachdem du weg warst. Der Teil, der so lange gedauert hat, war das Isolieren und Replizieren, so dass ich genug Material hätte, mit dem ich arbeiten kann. Jetzt wo ich es hab—“ Er seufzte erneut. „Ich hab inzwischen zwei unterschiedliche Testreihen durchgeführt und warte gerade auf die dritte. Ich hoffe noch, dass ich irgendwie etwas vermasselt hab, aber…“

„Was willst du mir sagen?“

„Die Proben, die du mir gebracht hast, fallen negativ auf das aktive Meta-Gen aus, Kon. Alle. Ich bin die Zahlen immer wieder durchgegangen, aber – was war das?“

Kon setzte sich auf den Baum, den er gerade umgestoßen hatte. „Nichts. Bist du sicher? Absolut—“

„Eindeutig“, beharrte Tim, „Unser mutmaßlicher Täter ist nicht darunter. Das ist das Worst-Case-Szenario, weil wir hiervon niemanden ausschließen können. Wir haben nur nach einem Anhaltspunkt gesucht. Spinde sind nicht gerade sicher und Teamkameraden teilen sich ständig Dinge… Und es ist möglich, dass dein Mörder darunter ist, aber dieses Wochenende einfach nichts in seinem Spind gelassen hat.“

„Ich weiß“, knurrte Kon. Er hieb auf den Baum neben seiner Hüfte ein und um ihn herum flogen Rinden- und Holzstücke auf. „Tim.“ Er konnte hören, wie ihm seine Stimme versagte, „Was soll ich nur machen? Mein Lehrer—“

„Ich weiß“, gab Tim zurück, „Ich hab die Berichte. Es ist dasselbe wie letztes Mal. Keine Abdrücke, kein Spurenmaterial, Aufschlagsverletzung, übermäßige Gewaltanwendung, Körperkraft auf Meta-Niveau—“

„Dalton hat zurückgeschlagen“, meinte Kon leise, „Er hat sich gegen den Bastard gewehrt. Er hat kochendes Wasser im ganzen Raum verteilt. Er könnte verletzt sein. Kannst du rausfinden, ob in der Umgebung jemand wegen Verbrennungen behandelt wird?“

„Ich kann es versuchen“, antwortete Tim, „Ich setze Oracle darauf an. Wir überprüfen Krankenhausunterlagen, Notrufe… Aber er ist ein Meta, Kon. Vielleicht benötigt er gar keine medizinische Hilfe.“

„Ich weiß“, gab Kon hilflos zurück, „Ich weiß. Aber mehr fällt mir grad nicht ein!“

„Besorg mir Fotos davon“, wies Tim ihn entschlossen an, „Im Bericht gab es nur zwei Aufnahmen, beide von deinem Lehrer und nicht vom Tatort.“

Kon rappelte sich auf. Er nahm seine Brille ab und legte sie ordentlich zusammen, bevor er sie in seine Tasche steckte und sein Hemd öffnete. „Ich brauch seine Adresse.“

*

Daltons Haus war klein und lag nah genug an der Schule, dass Dalton vermutlich zur Arbeit laufen konnte. Ein gelbes Absperrband klebte um den Carport und vor den Türen, aber niemand befand sich im Gebäude und es waren auch nirgends Polizisten zu sehen.

Vom Holz um die Türverriegelung waren nur noch Splitter übrig; ihr Meta war ganz offensichtlich hier gewesen. Kon ballte eine Hand zur Faust und legte sie in die Mitte der Zerstörung: Ein tiefes Loch, das fast komplett das Holz durchschlagen hatte. Ja, das war ein Faustschlag gewesen. Er konnte die Form einer Faust in dem zusammengedrückten Holz unter seiner Hand spüren. Wer auch immer das getan hatte, war kleiner als Kon gewesen, oder zumindest seine Hände waren das. Oder ihre. Er vergaß immer wieder, dass sie nicht einmal wussten, ob der Mörder ein Mann oder eine Frau war. Wenn Cassie das wüsste, würde sie ihm dafür eine verpassen. Kon machte ein paar Fotos von der Tür, eins davon mit seiner Hand als Maßstab. Dann schob er die Tür auf und trat in einen kurzen Flur mit offenen Türen auf beiden Seiten. Eine Tür führte ins Wohnzimmer und die andere in die Küche.

Sie hatten die Pasta nicht aufgewischt. Überall lagen einzelne Nudel und Klumpen davon, blassrosa wie auch die Fliesen, wo Blut und Wasser über den Boden gelaufen waren. Am dunkelsten war die Farbe neben dem Herd: Ein dunkles Rotbraun ähnlich wie die Farbe von alten Ziegeln.

Kon fügte Marinara-Sauce seiner Liste von Dingen hinzu, die er nie wieder essen würde, direkt nach Wurst und Calamari. Er machte aber die Fotos, wobei er immer wieder schwer schluckte und darauf achtete, nicht durch die Nase einzuatmen. Er machte Bilder aus allen nur erdenklichen Winkeln und schickte sie Tim. Dann sah er verflucht nochmal zu, dass er hier weg flog.

Er drehte einige Runden um den Ort, um etwas seiner nervösen Energie loszuwerden und um zu kontrollieren, dass es allen gut ging. Rebecca war zuhause, wo sie mit zwei anderen Frauen in ihrer Küche saß. Der Unterricht wäre bald zu Ende. Er zählte alle Clubmitglieder zusammen und fand sie auch alle in ihren Klassen, mit der Ausnahme von Jake. Er war weder in der Bibliothek noch im Kunstunterrichtsraum. Er war auch nicht im Werkraum oder im Diner. Kon fand ihn nirgends, bis er fast zuhause war und einen wohlbekannten alten Pickup in der Auffahrt neben Marthas stehen sah.

Er landete hinter ein paar Bäumen, einige hundert Meter entfernt, und ging zu Fuß den Kiesweg entlang. Krypto kam ihm mit einem verrosteten Fahrradgestell im Maul entgegen, das hintere Ende abgekaut, bis es glänzte. Kon streichelte ihm den Kopf und nahm das Fahrrad, bevor er mit einem Blick das Haus absuchte. Jake saß mit Martha am Tisch und trank Eistee. Keiner von beiden sah zum Fenster hinaus, und so drehte Kon sich um seine eigene Achse und warf das große Stück Schrott wie einen Diskus, so dass es in die untere Stratosphäre gewirbelt wurde.

Was machte Jake hier überhaupt? Kon hatte sich ihm gegenüber heute Morgen schrecklich verhalten und ähnlich schlimm gestern Abend, als er ihn so panisch einfach in der Auffahrt hatte stehen lassen. Kein Wunder, dass Conner Kent so wenige Freunde hatte. Er war ein ziemliches Arschloch.

Aber sie warteten wohl trotzdem auf ihn, also lief er die Straße entlang und ums Haus zur hinteren Veranda. Als er die Hintertür öffnete, sprang Jack auf und begrüßte ihn. „Conner“, atmete er deutlich erleichtert auf. Er ging ein paar Schritte auf ihn zu, bevor er auf halbem Weg unschlüssig anhielt.

Kon löste das Problem mit einer kurzen Umarmung und einem Schulterklopfen. „Alles okay bei dir?“

Jake machte einen Schritt zurück und starrte ihn ungläubig an. „Bei mir?“

„Ja, bei dir. Mann, es tut mir echt leid. Ich bin einfach irgendwie ausgerastet—“

„—weshalb ich mir Sorgen gemacht hab.“ Er seufzte und verdrehte die Augen. „Ich hab drei Krankenhäuser angerufen, aber niemand wollte mir auch nur irgendwas sagen und schließlich hat jemand gesagt, dass sie dich gesehen haben, aber du schon wieder weg bist und dann wusste niemand, wo du bist und – du warst so—“ Er seufzte erneut.

„Hat mich angerufen, ganz verzweifelt“, fügte Martha vom Tisch aus hinzu, „Ich hab ihm gesagt, du würdest sicher irgendwann nach Hause kommen und er könnte gerne auf dich warten.“ Sie lächelte, ein Funkeln in ihren Augen. „Er ist im Warten etwa so gut wie dein Freund draußen in Keystone.“

Oh Gott! Kon hätte trotz allem am liebsten gelacht, weil ernsthaft? Niemand konnte so schlimm wie Bart sein!

„Hat für mich die Wäsche herein getragen“, redete Martha nach einem Schluck Tee weiter, „sie zusammengelegt und alles. Ich denke, er hätte auch noch den Hühnerstall ausgemistet, wenn ich ihn nicht mit mir Einmachgläser hätte aufstellen lassen.“

Kon stellte fest, dass unter Jakes Teint einfach kein Erröten sichtbar war. Allerdings waren seine Ohren ziemlich rot.

„Er ist ein anständiger Junge“, meinte sie leise, „Ein anständiger Freund.“

Kon schätzte, dass alles, was er noch sagen könnte, Jake nur noch mehr in Verlegenheit bringen würde, also klopfte er ihm stattdessen auf die Schulter und setzte sich. „Ich musste nur… einen klaren Kopf kriegen. Ich bin… durch die Gegend gelaufen. Hab mit ein paar Leuten geredet.“

„Tim?“, fragte Jake, als er sich neben ihn setzte. Als Kon nickte, fragte er weiter: „Hast du… ähm. Weißt du schon, ob er am Freitag da ist?“

Martha leistete ganze Arbeit, sich ihre Überraschung nicht anmerken zu lassen, obwohl Jake es trotzdem bemerkt haben musste, denn er zuckte zusammen. „Es ist so schön, im Vorhinein zu wissen, wenn deine Freunde zu Besuch kommen. Ich sollte am besten einen Kuchen backen. Einen Blaubeerkuchen.“

Kon errötete bis in die Haarspitzen. „Er hat doch gesagt, dass es ihm leid tut“, versicherte er hastig, „Du weißt, wie verrückt diese Stadt ist. Er hatte—“, er warf einen Blick zu Jake, „Verpflichtungen. Und du weißt auch, wie seine Familie drauf ist.“

Martha schnaubte. „Du bist genau wie Clark und lässt diese ganze Sippe mit dir umspringen, wie es ihnen gerade passt. Alfred sollte jeden einzelnen dieser Jungs übers Knie legen und ihnen den Hintern versohlen, so wie sie sich ständig verhalten.“

Das mentale Bild des drahtigen, mürrischen Alfred, der Batman übers Knie legte, war genug, dass Kon sich an seinem eigenen Lachen verschluckte und den Kopf auf die Tischplatte fallen ließ.

„Ach, Du meinst also, dass ich Witze mache“, meinte Martha schelmisch, „Ich weiß, er ist ein anständiger Junge, Conner, und ich weiß, dass du ihm wichtig bist. Aber ich hoffe, dass du dir das alles gut überlegt hast.“

Kon wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Jake hatte mit keinem Wort den Ball erwähnt, außer er hatte ihn vor Kons Ankunft erwähnt. Was meinte Martha nur, dass vor sich ging? Mit Jake hier konnte er sie nicht wirklich fragen. War es wegen des Clubs?

Jake für seinen Teil saß betreten am Tischende und beobachtete aufmerksam die bernsteinfarbenen Eiswürfel in seinem Glas. „Ich sollte, äh. Dann mal gehen.“

„Oh nein“, warf Martha ein, bevor Kon auch nur den Mund aufmachen konnte, „Ich wollte dich ganz bestimmt nicht vertreiben, Jacob.“

Aber Jake war bereits aufgestanden. „Ich bin aus dem Unterricht weg, sobald sie uns aus der Turnhalle raus lassen haben. Dad ist sicher stinksauer. Die haben ihn bestimmt angerufen.“ Er zog den Kopf ein, als er zu Martha sah. „Vielen Dank, dass ich hier warten durfte. Und für den Tee.“

Martha schien amüsiert, aber nickte zurück.

Kon stand ebenfalls auf und begleitete ihn noch nach draußen. „Meinst du nicht, dass er dich verschonen wird, mit allem, was passiert ist?“

Jake antwortete erst, als Kon die Tür hinter ihnen geschlossen hatte. Er lehnte sich gegen den Verandapfosten bei den Stufen und sah Kon nicht an. „Dafür muss ich‘s ihm erst mal sagen, oder?“

Kon hielt hinter ihm an, direkt vor der obersten Stufe. „Oh“, machte er, weil er nicht wusste, was er sonst sagen sollte.

Jake lachte leise, klang aber keinen Deut glücklicher. Das war etwas, das Tim und er beide machten – zu lachen, wenn es nichts zu lachen gab. Die Schärfe des Geräuschs ließ Kon seine Hand ausstrecken und Jakes Rücken berühren, zwischen seinen Schultern. Sein Herzschlag unter Kons Fingern war fest, wenn auch etwas schneller als normal, aber nichts im Vergleich zu der Panikattacke vor Whoa Nellie’s.

„Mir geht‘s damit besser als letzte Woche noch“, sagte Jake leise, „Zu wissen, dass ich nicht der einzige bin – naja, das hilft. Ich mein“, er lachte erneut auf, „Ich hab immer noch panische Angst…“

Panisch. Panisch wie Matt es gewesen war, als sein Vater davon erfahren hatte? „Willst du, dass ich mitkomm?“, bot er an.

Jake schüttelte den Kopf zum Nein, bevor er sich hastig zu ihm umdrehte und Kon am Hemd packte. Kon hatte keine Zeit zu reagieren, außer sich nach vorne fallen zu lassen und einen überraschten Laut von sich zu geben, als Jake sich bereits zu ihm hoch beugte.

Der Kuss war kurz und relativ keusch, einzig die Berührung und das kurze Gegeneinandergleiten ihrer Lippen. Nach ein paar Sekunden wippte Jake zurück auf seine Fersen und ließ Kon los. Er wich seinem Blick aus. „Tut mir leid“, flüsterte er und benetzte sich die Lippen mit der Zunge. „Ich wollte nur – es schien mir nicht fair. Mich vor meiner Familie outen zu müssen, ohne dass ich jemals überhaupt einen Typen geküsst hab.“

Etwas in Kons Brust verkrampfte sich. Kurzentschlossen legte er eine Hand auf Jakes Oberkörper und schob, drängte ihn mit weit aufgerissenen Augen und stolpernden Schritten zurück gegen den Pfosten. Jakes Mund stand offen und Kon beugte sich ihm entgegen, um sich mit der Zunge Einlass zu verschaffen. Er legte eine Hand an Jakes Kiefer und neigte seinen Kopf leicht, um den Kuss noch zu vertiefen.

Jake schloss die Augen. Ein kleines Seufzen entrang sich seiner Kehle und blieb zwischen ihren Lippen hängen. Kon saugte an seiner Zunge, dick und heiß zwischen seinen Lippen – leckte sich seinen Gaumen und seine Zähne entlang – biss, gerade fest genug, auf seine Unterlippe. Er zog seine ganze umfassende – und vielgestaltige – Erfahrung heran und gab alles, um ihm den besten Kuss zu geben, den er konnte.

[Bild: 0000rs2z.jpg]

Als er einen Schritt zurücktrat, lehnte Jake sich immer noch schwer gegen den Pfosten, seine Augen geschlossen und sein Mund leicht geöffnet. Er atmete tief und zittrig ein, dann öffnete er die Augen; weit aufgerissen und glasig wie im Fieber.

Jetzt hast du einen Typen geküsst“, meinte Kon.

Jake starrte ihn nur an.

„Wird schon alles gut gehen. Im schlimmsten Fall… Ma mag dich und wir haben Platz.“ Was so nicht ganz stimmte. Er zweifelte nicht im geringsten daran, dass Martha Jake aufnehmen würde, wenn er es bräuchte, aber im wirklich schlimmsten Fall…

Der wirklich schlimmste Fall würde nicht passieren!

Kon stand auf der Veranda und beobachtete, wie Jake in sein Auto stieg und davon fuhr. Als er hinter einer Gruppe Bäume außer Sichtweite verschwunden war, nahm Kon seine Brille ab, zog sein Hemd aus und ließ beides einfach auf der Veranda liegen.

Natürlich war er vor Jake im Ort, aber das war auch in Ordnung. Jake war nicht die einzige Person in Smallville, auf die er aufpassen musste. Der Unterricht war zu Ende, aber Mel und Katie waren noch draußen auf dem Spielfeld zum Marching-Band-Training. Hamilton war nicht im Kraftraum beim Football-Team, aber Kon fand ihn bei seiner nächsten Runde, wie er auf dem Parkplatz mit Chase redete. Clarence und Delilah gingen ein paar Blocks von der Schule entfernt nebeneinander her. Bei seiner dritten Runde standen sie in einer Auffahrt und zur sechsten Runde hatten sie es sich zusammen mit Charlotte Moore vor dem Fernseher gemütlich gemacht. Matts Mutter lag im Bett, die Decke über den Kopf gezogen, obwohl es draußen noch hell war.

Daniel war in der Stadtbibliothek. Beth versorgte scheinbar die Hunde in Dr. Fords Tierarztpraxis. Caroline fuhr den Highway 41 deutlich zu schnell hinunter. Kon sauste bei seiner nächsten Runde knapp über sie hinweg und sie wurde daraufhin langsamer.

Er konnte nicht so weit sehen wie Clark. Er konnte nicht so gut hören. Er hatte nicht Tims technische Spielereien oder Barts Geschwindigkeit, aber wenn er nur immer in Bewegung blieb, könnte er den ganzen Ort abdecken. Bei etwa jeder zehnten Runde zog er seine Bahn weiter, flog über die Farm und dann weiter zum Krankenhaus, wo Dalton gleich einem Stein lag und Justine sich unbequem in ihrem grauen Plastikstuhl zusammengerollt hatte.

Als Jake nach Hause kam, wurde geschrien. Dann wurde geredet. Und sich umarmt.

Kon lächelte.

Er flog weiter.

~> tbc in Teil 12