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[ab 18!] say ny name (14|16) - Druckversion

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say ny name (14|16) - June - 08.09.2022

Kapitel 14
I tried not to upset you, let you rescue me the day I met you

STEVE!”

Die Schüsse hallten in seinen Ohren nach, mächtig und laut und unbarmherzig, das einzige Geräusch, das er je wieder hören könnte, das einzige Geräusch, das es noch gab, das einzige-

Etwas entfernt gab es ein lautes, hölzernes Krachen, bevor Jos Sommersonnenstimme mit der Wucht einer Hitzewelle gegen die gefrorene Taubheit in seinen Knochen prallte.
Er hörte sie sprechen, hörte das Flirren der Sommerhitze in ihren Worten, aber nicht ihre Worte, hörte das tiefe, raue Knistern von Rufus Kaminfeuerstimme, hörte das Knacken von Holz und Flammen, das jedes Wort begleitete, aber nicht seine Worte.

Sein Herz war zu laut, zu schnell, er konnte es nicht hören und er konnte nur das hören, das und das hohe, schrille Pfeifen, das die Schüsse in seinem Trommelfell zurückgelassen hatten.

Steve.
Steve.

Als er seine Augen schloss, spürte er Feuchtigkeit auf seinen Wangen, Schweiß, Angst, Blut? Steve.

“Jo?” Seine Stimme kam nicht aus seinem Mund, hielt sich an seiner Zunge und seinem Gaumen fest wie Widerhaken in der Haut. Er zwang seine Kehle zu einem trockenen, brennenden Räuspern, bevor er es nochmal versuchte: “Jo?”

“Dean!”

Er musste Fragen.
Er musste es wissen. Er musste-
Steve. Steve.

“Ist- Hat-, Jo.” Seine Stimme brach, kratzend und rau wie gemahlenes Glas.

“Er lebt. Steve lebt, Dean.” Hätte er sich nicht auf seinen Schreibtisch gelehnt, wäre er auf den Boden gefallen.
Die Erleichterung, die durch seinen Körper rauschte wie eine Sturzflut, ihn wegspülte, aus sich selbst heraus und nur noch Herzschlag und angehaltenen Atem in ihm zurück ließ, machte seine Muskeln weich, seinen Kopf leicht und seine Wangen noch feuchter. Er lebt. Er lebt!
“Er hat ihm in den Bauch geschossen.”

Der Ruck, der durch seinen Körper tobte, war schmerzhaft, nachhallend, zog in Muskeln und Knochen und- 
Er hat ihm in den Bauch geschossen.
Bastard. Bastard!

Dean musste sich wieder räuspern, bevor er seine Stimme über seine Lippen zwingen konnte: “Aber, die Sanitäter- Sie- Er schafft es, oder? Er-”
Er hatte so sehr gekämpft. Er durfte nicht-

Alastair durfte nicht gewinnen. Nicht jetzt noch! Nicht jetzt wo- wo-
Wo.
Wo war Alastair?

Dean konnte spüren, wie sein Herzschlag schneller wurde, hektisch, panisch, als er scharf die Luft einzog.
“Jo, wo ist Alastair?”

Er hörte ihren tiefen Atemzug, bevor die Sommerbrise ihrer Stimme sich bemüht sanft in seine Ohren legte.
“Dean, Steve hat ihm in den Bauch geschossen.”
Steve hatte-

Steve hatte gewonnen.
Er hatte es geschafft.

Er hatte-

Es war nicht vorbei.

“Welches Krankenhaus?”

“St. Michael’s.”

Seine Finger und Bewegungen waren ein routinierter Wirbel, eine geübte, einstudierte Prozedur; Gespräch beenden, Notizen ausfüllen - mechanisch und emotionslos, stur -, Ausloggen, Headset abnehmen.
Über Jahre einstudiert und geübt und routiniert und nicht mit einem einzigen rationalen Gedanken versehen außer Steve, Steve, Steve, Steve.

Sobald seine Station ausgeloggt war, drehte er sich um- und stand direkt vor Ellen.
Fuck.
Ellen.

Er arbeitete. Er hatte eine Schicht zu beenden.

Sein Mund wurde trocken.

Er konnte nicht- Er musste- Er- Steve!
Sein Herz schlug immer noch so schnell und hoch in seinem Hals, dass er sich sicher war, man könnte die Umrisse an seiner Kehle sehen.

Aber noch bevor er seine trockene Kehle zu einem schweren Schlucken überreden konnte, hob Ellen ihre Hände, legte sie auf seine Wangen und strich mit ihren Daumen darüber.
Sie lächelte, fest, traurig und zeigte ihm ihre nasse Hand.

Wieso war- Fuck.

Dean zog scharf die Luft ein, räusperte sich ertappt und unwohl und wischte mit beiden Händen grob aber sorgfältig über sein Gesicht.
Er hatte nicht einmal bemerkt, dass ihm die Tränen gekommen waren. Er- Fuck.

Sein Herz schlug so schnell, dass es weh tat. Getrieben, unruhig, rastlos. Jeder Schlag war so schwer in seiner Brust.

“Geh.” Sein Kopf zuckte überrascht hoch, um Ellen direkt ansehen zu können. Ihre Augenbraue war in fürsorglicher Strenge hochgezogen, die Arme vor der Brust verschränkt. “Geh! - Wir kommen hier klar.”

Er hatte sie in seine Arme geschlossen, bevor er den Satz überhaupt ganz gehört hatte.
“Danke, Ellen.” Sie klopfte ihm kräftig auf die Schulter, nachdem sie ihn ebenfalls gedrückt hatte.

“Geh schon. Kevin soll dich fahr-”

“Nein, alles in Ordnung. Ich sag Bescheid, wenn ich da bin.” Seine Stimme klang so gehetzt, wie sein rasender Herzschlag ihn sich fühlen ließ.
Er musste selbst fahren.
Er konnte nicht- Er würde aus dem fahrenden Auto springen, wenn er nicht hinter dem Lenkrad sitzen würde.

Kevin warf ihm noch einen besorgten Blick zu, aber Dean nickte ihm nur im Vorbeigehen zu, haltlose Entschlossenheit auf sein Gesicht gezwängt, bevor er in der Umkleide seine Sachen packte und ohne sich umzuziehen zum Aufzug hechtete.

Steve.


Die Fahrt war ein Fiasko - und reines Glück allein sorgte dafür, dass er nicht selbst in einem Krankenwagen ankam. Er hatte vermutlich fast jede Verkehrsregel gebrochen, die er kannte, aber es war egal.
Hupgeräusche und wütende Rufe hatten ihn die Hälfte des Weges begleitet, scharfes Bremsen rechts und links und mehr als ein ausweichender Schlenker seinerseits, aber es war egal.
Egal.
Er war hier, er war angekommen!

Baby’s Reifen quietschten in einem lautem Prosest, als er sie mit überhöhter Geschwindigkeit in eine Parklücke steuerte und dann unsanft die Bremsen durchdrückte.
“Ich weiß, ich weiß, tut mir Leid!” Eine Hand streichelte beruhigend aber hektisch das Lenkrad, während er mit der anderen Handy und Portemonnaie vom Sitz aufsammelte. Er hatte gerade noch genügend Geduld, um Baby zu zu sperren, bevor er in Richtung Krankenhaus joggte.

Sein Herz raste in seiner Brust und er musste den Drang hinunter kämpfen, sich getrieben umzusehen, während er den Weg entlang rannte, verfolgt, unruhig, falsch.

Er war fast an der Tür, nur noch wenige Meter und- Eine zuschlagende Autotür hinter ihm, ließ ihn abrupt halten und herumwirbeln, atemlos und herzschlagend mit einer Spur, einer Prise, Panik.
Fuck.
Fuck.

Dean zog tief und stur einen nur halb so vollen Atemzug, wie er sich gewünscht hätte, in seine Lungen, aber einen zweiten bekam er nicht runter.
Fuck. Fuck!

Er versuchte es weiter, Zug um Zug, luftleer und trocken, weiter, weiter, nochmal, nochmal - Verflucht er musste-
Er beugte sich nach vorne, die Hände schwer auf die Knie gestützt, wieder und wieder, nochmal, nochmal!
Er bekam keine Luft, er bekam keine- Er musste- Er-
Er musste zu Steve. Jetzt. Jetzt!
Nur ein Atemzug, nur ein- Er-

Sein Handy klingelte dumpf durch rasselnde, luftleere Atemzüge und sein Geist stürzte sich fast darauf, auf den verschobenen Fokus, Alternativen, keine luftarmen Lungen und rasende Herzen - Ein Anruf! Er musste nur-

“Was?” Seine Stimme war rau und trocken geatmet, sie fühlte sich wie Sandpapier auf seiner Zunge an, aber er schaffte es nicht, sich zu räuspern, um nochmal anzufangen.

“Mr Winchester? Dean Winchester?” Eine junge Frauenstimme kam von der anderen Leitung, warm und weich wie der Geschmack hausgemachter Kuchen und so beruhigend, dass er nicht einmal merkte, wie sie seinen Fokus nicht mehr nur ablenkte sondern einfing und sein nächster Atemzug vollständig seine Lungen füllte.

“Ja?”

“Mr Winchester, mein Name ist Bess Myers, ich bin Krankenschwester im St. Michael’s Hospital. Sie sind der Notfallkontakt von Castiel Novak; Er wurde gerade eingeliefert. Er-”

“Ich bin- was?” Die Verblüffung in seiner Stimme glättete die Ränder des Sandpapiers und ließ seine Stimme in schwacher Verwirrung zurück.
Er war Steves Notfallkontakt?
Er war Steves Notfallkontakt.

Etwas kaltes und kleines, einsam und fast vergessen krampfte in ihm bei dem Gedanken.
Er war der einzige, den Steve hatte.

“Sie sind Mr Novaks Notfallkontakt, Mr Winchester.”

Seine Beine setzten sich vollkommen selbstständig in Bewegung; Er drehte sich um und öffnete die Tür zum Krankenhaus.
Ein kurzer Blick auf den Wegweiser, dann weiter zum Empfang.
Steve.
Steve, Steve, Steve.
Steve.

Wenn er der einzige wäre, den Steve hatte, dann würde er für ihn da sein, und wenn sein Herz noch so sehr raste und rannte und sein Hals noch so trocken und zugeschnürt war.

Dean konnte hören, wie sich Bess Myers räusperte, bevor ihre warme Sanftheit die Leitung wieder füllte.
“Mr Novak wurde verletzt. Er befindet sich derzeit in Behandlung im St. Michael’s Hospital. Er wird gerade für eine Operation vorbereitet. Können Sie-”

Seine Schritte waren hektisch und getrieben, als er durch die Gänge manövrierte und um Ecken bog bis-

“Ich bin da.” Er beendete das Gespräch und sah der jungen blonden Frau hinter dem Tresen dabei zu, wie sie verblüfft auf den Hörer in ihrer Hand blickte. “Mrs Myers?”

Sie hob ihren Kopf und blinzelte Dean einen Moment verwirrt an.
“Mr Winchester?”
Ihre Augen glitten routiniert über ihn und sie runzelte in fachmännischer Sorge die Stirn. Aber noch bevor sie etwas sagen konnte, trat Dean direkt an den Tresen.

“Stev- Mr Novak?” Die tiefen Falten auf Bess’ Stirn weckten wieder die fast vergessene, atemlose Unruhe in seiner Lunge und das fast überhörte rasende Trommeln in seinem Herzen. Er musste schwer Schlucken, hart und schmerzhaft, bevor er wieder ansetzen konnte. “Wo ist Mr Novak? Ist er- Wie geht es ihm?”

Bess’ Augen glitten erneut über Dean und er versuchte seine Haltung zu strecken, breite Schultern, erhobener Kopf, stark und kontrolliert - aber er erkannte an ihrem Blick, dass es nichts brachte, also ließ er seine schweren Schultern wieder erschöpft nach unten sinken.

Er konnte das jetzt nicht. Er hatte keine Kapazitäten für ihren beunruhigten, sorgenvollen, fachmännischen Blick oder seine stechenden, luftleeren Lungen oder sein rasendes Herz, das ihm zu schrie, dass er nicht zustehen bleiben durfte weil dann- weil dann-
Als er eine Hand auf den Tresen legte, plakatierend, offen, bemerkte er erst, dass sie zitterte.
Scheiße.
“Hören Sie, Mrs Myers, ich weiß, was passiert ist. Ich war am Telefon, als es passiert ist. Ich war dabei.” Seine Stimme brach fast und er musste sich erneut schwer räuspern. “Ich muss nur wissen, ob es ihm- Wie es ihm geht.”

Er musste zu ihm.
Sofort, jetzt! Er musste-

Zwei kurze aber tiefe Atemzüge verfingen sich in seinen Lungenflügeln und er hielt einen Moment erstickt die Luft an.
Ihre Augen glitten nochmal über ihn, langsam und kalkulierend, abschätzend.

Fuck.



Bess Myers war streng genommen ein Goldstück. Sie war liebenswert, freundlich und genauso herzensgut wie ihre Kuchenduft-Stimme es vermuten ließ.
Aber sie war auch eine resolute Krankenschwester, die sich auf ihre Intuition verließ - und die hatte ihre Zweifel daran gehabt, ob mit Dean alles in Ordnung war.
Wie sollte auch alles mit ihm in Ordnung sein, nachdem-?!

Er hatte sie gerade noch davon abhalten können, ihn eigenhändig einzuweisen, weil er weiß wie eine Kalkwand war - ihre Worte - und zitterte wie Espenlaub - ihre Worte - und kurz davor war, umzufallen - auch ihre Worte.
Auf seine Bemerkung, er war in diesem Zustand auch gerade zum Krankenhaus gefahren, also konnte es nicht so schlimm sein, war ihr Blick das erste Mal wütend-streng geworden und nicht freundlich-streng.

Am Ende hatte er es irgendwie geschafft, einer Einweisung zu entgehen, indem er nicht im Wartezimmer Platz nahm sondern ihr zu ihrer Station folgte und dort auf einer Bank wartete, immer in ihrem Blickfeld, aber ebenso nah an den Türen zum OP-Trakt, also hoffte er, er würde dadurch wenigstens schneller Infos bekommen.

Was er bis jetzt bekommen hatte waren, neben Bess’ ständig wachsamen Augen, ein Schokoriegel und eine Cola von Bess, die er beide nicht runter bekam, eine Decke - auch von Bess - die neben ihm auf der Bank lag (sehr zu ihrem Widerwillen) und ein Klemmbrett mit einem seitenlangen Formular, das er für Steve ausfüllen sollte - und nicht konnte.

Gott, er hatte bis heute nicht einmal gewusst, wie Steve mit richtigem Vornamen hieß, geschweige denn, ob er einen zweiten Vornamen hatte.

Sein Bein wippte hektisch auf und ab, während er abwechselnd zu den geschlossenen Türen blicke, hinter deren Gängen irgendwo Steve operiert wurde, und dem Formular.
Geburtstag? Versicherung?
Das Kreuzchen, das er bei “Male” machte, war wacklig, das Kreuzchen bei “Single” dagegen zu fest und zu dick und er ließ das Klemmbrett wieder sinken, um zu den geschlossenen Türen zu blicken.

Wie lange war er schon hier?
Wie lange war Steve schon da drin und-

Das Telefon an der Station war leise genug eingestellt, dass es einen kaum erschrecken konnte, aber Dean ließ trotzdem beinahe das Klemmbrett fallen.
Verfluchte Scheiße.
Er warf das Brett unsanft neben sich auf die Bank, vergrub das kaltklamme Gesicht in seinen bebenden Händen und mühte sich an einem tiefen Atemzug. Er konnte sich nicht beruhigen. Der Drang zu laufen und zu rennen, wohin oder vor was konnte er nicht sagen, pulsierte in seinen Muskeln, Blut und Herzen wie ein hektischer Trommelwirbel.
Jeder zweite Atemzug war halb und steif und seine Hände hörten nicht auf zu zittern!

In dem Versuch, sich auf etwas anderes zu fokussieren als den Tumult in seinem Inneren, hörte er Bess am Telefon zu, ihrer warmen Apfelkuchenstimme, den zimtigen Ausschlägen von sanfter Bestimmtheit, als sie irgendjemandem am anderen Ende der Leitung eine Anweisung gab.

Er konnte fast ein paar Atemzüge nehmen, wenn er ihrer Stimme lauschte, ein oder zwei tiefere Züge, die seine verklebten Lungen lösten und aufblähten, so lange, bis er sich fragte, ob Steve sie noch gehört hatte.
Ob Bess mit ihm gesprochen hatte, ihn beruhigt hatte - und ob Steve das noch hatte hören können, oder ob er- er-

“Dean?!” Das tiefe, vertraute Timbre von Waldbäumen und im Windzug wiegenden Ästen rauschte zwischen den Sturm seines Herzschlags und seiner steifen Lunge, verankerte sich mit tiefen Wurzeln in seinen Knochen und hievte ein Gewicht von seiner Brust und seinen Schultern, dessen er sich nicht einmal bewusst gewesen war.

Seine Lunge entfaltete sich, frei und tief gefüllt mit Luft und Ruhe, als er aufstand, die kurze Distanz in wenigen, großen Schritte überbrückte, die Hände austreckte und Sam in eine eiserne Umarmung zog, sobald er ihn greifen konnte.
Seine ruhigen, steten Hände verkrallten sich für einen Augenblick in in Sams kalter Jacke, als Sam seine Arme ebenfalls um ihn schloss, sein Kopf gegen Sams Wange gedrückt und so nah an ihn gepresst, dass er das Rasen eines kurzen Sprints in seiner Brust spüren konnte.

“Dir geht’s gut.” Dean bemerkte kaum, wie ihm die Worte entkamen, erleichtert fliegend auf einem ruhigen Atemzug. Sam ging es gut.
Sam war in Ordnung und-

“Klar, Dean- Was? Mir geht’s gut, natürlich geht’s mir gut. Wie geht es dir?” Sorge war dick und rau in Sams Stimme, wie eine alte Eiche, die sich über alles erhob, alles überschattete und Dean presste die Augen für einen Moment fest zusammen.
Allein der Gedanke, die Frage zu beantworten, darüber nachzudenken - Steve, Steve, Steve - ließ einen Sturm aus Unruhe wieder in ihm aufsteigen, den er nur mühsam runter schlucken konnte, bevor er Sam losließ.

Ein lang einstudiertes, eisernes Lächeln legte sich auf seine Lippen, leger und nonchalant, über Jahre in Beruhigung und Witz geschult, wenn es weder Ruhe noch Freude gegeben hatte und er zuckte mit den Schultern.
Er konnte Sam nicht- Er musste-
Es war schwierig, okay?

Sam erkannte seinen Bluff sofort: “Bullshit, Dean. Lass den Scheiß. Was ist los?”
Er griff nach seinem Kinn und drückte sein Gesicht bestimmt aber sanft nach oben, sodass mehr Licht darauf fiel. Seine Stirn runzelte sich, als er sein Gesicht nach Hinweisen und Spuren scannte; weiße Haut und rote Augen waren seine prominenten Verräter.
“Was ist passiert?”

Die tiefen Wurzeln der Sorge in seiner Stimme gruben sich unter seine Füße, drückten sein Standbein beiseite und ließ seine Knie weich werden. Sein eisernes Lächeln bröckelte unter dem tobenden Tumult, der sich durch seine Facetten kämpfte und nichts sehnlicher wollte, als sich gegen Sams Waldrauschen zu stürzen und- und- und-
Verdammt.
Verdammt.

Er musste einen Schritt zurück machen, atmen, tief, tief, als eine erneute Welle Panik - es war keine Panik - durch sein Blut tobte.
Was war passiert?
Was war passiert?!

Er war passiert, er hatte es verbockt! Er hatte- Er hatte Steve in Gefahr gebracht, er hatte ihn bedrängt und belästigt, hatte dafür gesorgt, dass er sich bei ihm nicht mehr sicher gefühlt hatte und damit hatte er ihn in Gefahr gebracht.
Er hatte ihn Alastair praktisch ausgeliefert!
Und Sam- Sam- beinah auch Sam!

“Ich bin Schuld.” Seine Stimme brach mitten im Wort durch, morsch und schwach und feucht. Seine Hand fuhr grob über seine Augen, drückte in die härten Ränder seiner Höhlen, versuchte Feuchtigkeit und Hitze zurück zu drängen, während er schnappend Luft holte.
Er ließ sie gepresst wieder aus, zog die Nase hoch und nickte, einmal blinzeln, zweimal. “Ich hab ihm das eingebrockt, ich hab-”

“Dean.” Sams Stimme rollte durch seine rasenden Gedanken wie sanfte Äste über den Rücken eines verschreckten Rehs und er zog erneut tief die Luft ein. Seine Hände zitterten wieder, also steckte er sie in die Jackentaschen. “Was ist passiert?”

Er nickte mehrfach, knetete die Lippen aufeinander, suchte sich etwas anderes, das er ansehen konnte, als Sams große, besorgte Welpenaugen, die ihn immer wieder zu sich zogen.

“Ich hab-” Ein erneutes Schlucken. “Ich hab ihm gesagt, er soll ihn verlassen.”

Sams gerunzelte Stirn sprach diesmal nicht von Sorge sondern völliger Verblüffung. “Du hast- was? Aber du sagst nie-”
Das selbst zerfleischende Lächeln auf Deans Gesicht ließ Sam abbrechen.

“Ja, ich sage das niemandem. Aber Steve, Steve habe ich es gesagt. Ich habe Steve gesagt, er soll ihn verlassen und dann- dann- Dann. Dann hab ich ihn geküsst.” Er konnte Sam nicht ansehen. Es war seine Schuld. Es war alles seine Schuld. “Ich hab ihm gesagt, er soll ihn verlassen und dann habe ich ihn geküsst. Und als er Alastair verlassen wollte, war er ganz allein. Weil ich nicht da war.”
Heiße, ätzende Tränen brannten wieder in seinen Augenwinkeln. “Er hat ihm- Er hat ihn gequält, Sammy. Er hat ihn so sehr gequält und er wollte mit dir das selbe machen und ich bin Schuld, ich habe-”

“Fuck.” Sams Umarmung zerdrückte ihn fast, presste ihn zusammen wie dicke Wurzeln eine Regenrinne - es war das einzige, das ihn im Moment zusammen hielt.


Sam hatte ihn gezwungen, die Cola zu trinken und war gerade in sein Smartphone vertieft, vermutlich etwas wegen seiner Arbeit.
Er hatte die Kanzlei, als Kevin ihn angerufen hatten um ihm mitzuteilen, das Steve verletzt war und Dean ins Krankenhaus gefahren war, sich aber noch nicht wieder gemeldet hatte, Hals über Kopf verlassen und war ebenfalls ins Krankenhaus gehechtet, vermutlich halb erwartend, dass er Dean dort selbst in einem Krankenhausbett vorfinden würde.

Immerhin war das nicht der Fall gewesen - und sobald Sam Dean ausreichend beruhigt hatte, zumindest zitterten seine Hände jetzt nicht mehr und ja, Sam sicher neben sich zu wissen, beruhigte seinen Herzschlag ungemein, hatte Kevin auch endlich seine erlösende Nachricht bekommen.

Dean trommelte mit seinem Zeigefinger auf seinem verschränkten Arm - taptaptaptap - und starrte auf die Uhr.
Stunden.
Es waren bereits Stunden.
Endlose, lange Stunden und sie hatten nichts gehört.

“Dean…” Sams starres Waldknarren war angespannt und Dean verdrehte die Augen, ehe er ruckartig aufstand. Er fuhr sich streng durch die Haare und schüttelte dann seine Arme aus, ließ seine Schultern kreisen.
Sie mussten doch etwas erfahren.
Sie mussten- War es gut oder schlecht, dass es so lange dauerte?
Gott, er brauchte- Irgendwas. Einen Kaffee. Gab es nicht immer irgendwo einen Kaffeeautomaten mit schrecklicher Brühe, die so vollgestopft mit Koffein war, dass man keinen Geschmack mehr wahrnehmen konnte?
Er brauchte einen Kaffee, aber er konnte und wollte keinen Schritt von den Türen weg machen.

Irgendwann, jeden Moment, jeden Moment!, würde jemand durch diese Tür kommen und-

Die Türen schwangen auf.

Dean erstarrte mitten in der Bewegung und starrte die Ärztin an, die auf sie zuging.
Feuerrote, hochgesteckte Haare kamen unter der OP-Haube zum Vorschein, als sie sie sich vom Kopf zog und hinter das Klemmbrett schob, das sie in der Hand hatte.
Ihre Augen waren noch einen Moment auf jenes Klemmbrett gerichtet, die Stirn leicht gerunzelt, während ihre Augen über die Zeilen flogen, bevor sie den Blick hob und Dean direkt und streng blickte.
Sie sah erschöpft aus, müde und auf eine besorgte, aber unverbindliche Art ernst, wie es nur Ärzte konnten.
Ärzte, die keine guten Nachrichten hatten.
Dean zwängte ein trockenes Schlucken seine Kehle hinunter, bevor er ein paar Schritte auf Sie zumachte.

“Sie sind Mr Winchester?”, ihre Stimme klang natürlich und leicht mit einem schweren, schottischen Akzent, wie Wind, der über Felsen in den Highlands zog. - Er nickte, hörte, wie Sam hinter ihm ebenfalls von der Bank aufstand, wie er zu ihm kam, hinter ihm stand wie eine verlässliche, starke Eiche. Die Ärztin nickte, warf noch einen Blick auf das Klemmbrett und ließ ihre Augen einen Moment auch über Sam gleiten, während die langen weißen Finger sich über dem Metall falteten - und dann sah sie Dean direkt an. “Ich bin Doktor MacLeod und Mr Novak’s Ärztin. Schwester Myers sagte, Sie wissen, was passiert ist?”
Sein Nicken fühlte sich mechanisch an, steif, während die Erinnerungen an Steves Schluchzen, seine angstgefüllten Atemzüge und bleikristallinen Tränen sich durch seine Knochen frästen.

Sie zog einmal tief Luft ein.
“Mr Novak hat schwere Verletzungen erlitten, wir mussten ihn schnellstmöglich operieren. Er hat mehrere Stich- und Schnittverletzungen im Torso und in den Oberschenkeln sowie Armen, glücklicherweise wurden dabei keine großen Blutgefäße verletzt.”

Eine tiefe, brodelnde Übelkeit kochte sich durch Deans Speiseröhre, bei dem Gedanken, bei der Erinnerung wie Alastair-
Es war kein Glück gewesen. Es war Absicht.
Sams Hand schloss sich um seinen Oberarm.

“Durch eine der Stichwunden hat sich ein traumabedingter Pneumothorax entwickelt, aber wir konnten die Flüssigkeit entfernen und die Blutungen stillen. Den Spiralbruch im rechten Arm haben wir gerichtet und vorerst geschient.”
Die Erinnerung an das laute, widerliche Krachen, das er gehört hatte, zerriss beinah sein Trommelfell, während Steves luftarmes Gurgeln ihn seinem Kopf ihm den Atem raubte und trotzdem war das nicht das schlimmste Gefühl, das langsam in ihm aufstieg:

Aber.

Es hallte wie ein prophetisches Echo in Deans Kopf, tief und bedrohlich.
Ihr Ton, trotz der natürlichen Leichtigkeit von tiefen Bergwinden, war nicht beruhigt. All das hatten sie tun können, all das hatten sie getan, um Steve zu helfen - und es reichte nicht.

Aber.

“Die Operation ist gut verlaufen.”

Aber.

Dean konnte spüren, wie seine Haut weiß wurde, kalt und klamm, und er schluckte hart und trocken.

“Was uns allerdings Sorgen bereitet” Fuck. “ist die Kopfverletzung.”

Die Erinnerung flutete seinen Kopf, seine Ohren, Hals, Herz und Blut. - Immer wieder, Knall, Knall, Knall!

“Ist- Kann- Was-”
Seine Stimme war rau und kratze wie gesplittertes Glas in seinem Hals. Er musste wissen- Wie schlimm- Was-

Ihre Augen, hart und bestimmt, stark, wurden eine Spur mitleidig.
Großer Gott.
Großer Gott.
“Wir haben uns entschieden, aufgrund der Schwere der Verletzung und der multiplen Traumata, Mr Novak vorerst nicht aus der Narkose zu holen.”

Dean konnte es spüren, wie jede kleine Fließe, jeder Krümel Beton und jeder Splitter Holz unter seinen Füßen weg brach, ihn haltlos und taumelnd zurück ließ.
Sie haben sich entschieden.
Nicht aus der Narkose.
Multiple Traumata.

Sein Mund war zu trocken für Worte, sein Hals fast zu rau für Atemzüge.
Er konnte nicht-
Er musste wissen-
Konnte er zu ihm?
Er musste- Er musste zu ihm! Er-

“Heißt das, Sie haben ihn in ein künstliches Koma gelegt?”
Sams Waldrauschen, tief und beruhigend, wie regennasse Erde unter seinen Füßen, hielt ihn fest, erdete ihn, jetzt, hier, und Dean blinzelte ein paar Mal, bis seine Augen wieder klar waren.

Dr. MacLeod nickte.
“Aufgrund der Schwere seiner Verletzungen ist es so einfacher für seinen Körper, sich um sich selbst zu kümmern. Wir werden die Narkose im Idealfall nur wenige Tage aufrechterhalten und ihn dabei engmaschig überwachen. Er wird gerade auf die Intensivstation gebracht. Mrs Myers-”

“Kann ich zu ihm?”
Seine Worte waren schwer wie totes Treibholz, vollgesogen mit runtergeschluckten Tränen und geschmolzenen Eiskristallen aus seinem Inneren.

Der rot geschminkte Mund klappte zu, bevor sie ihn direkt ansah, durchbohrend und stur, eine perfekte Augenbraue leicht nach oben gezogen - und Dean fühlte, wie sich der Moment in Ewigkeiten zog, bevor sie kurz und knapp nickte.
“Ja.” Sie drehte sich um, winkte ihnen, ihr zu folgen und schritt den Gang entlang.

Steve, Steve, Steve, Steve.


“Seine Haut ist so kalt.” Wie Eis, das über schäumende Gischt fror. 
Deans Stimme brach beinah unter der Eislast der Wellen, als seine Fingerspitzen vorsichtig über Steves Handrücken strichen.
Er wollte ihn berühren.
Gott.
Er wollte ihn berühren und halten, ihn an sich drücken, durch seine seidenweiche Haare streichen, sicherstellen, dass es ihm gut ging.

Aber das tat es nicht, es ging ihm nicht gut.

Steve wirkte so klein und schwach in dem Krankenhausbett, weiße Haut auf weißen Laken; Er war so blass, fast hellblau, wie Meereswellen an einem Wintermorgen.
Er war doch so stark. Er hatte so sehr gekämpft.

Dean zog einen zitternden, gefährlich feucht klingenden Atemzug in seine klammen, klebenden Lungen.
Er hatte gedacht, er könnte es.
Einfach hier sein, für Steve da sein. Bei ihm sein, wenn Steve ihn sehen wollen würde.
Er war auf so vieles gefasst gewesen; Wut, Tränen, Zittern, Schreien und atemloses Luftschnappen in erstickender Panik - und er wäre für alles geblieben, hätte Steve in seinen Armen gehalten, ihn gewiegt und beruhigt, ihn geküsst[/i], bis sein Atem ruhiger worden wäre, seine Hände nicht mehr gezittert hätten und er hätte schlafen können.
Dean wäre geblieben, Nacht für Nacht, bis es Steve besser ging.

Darauf war er gefasst gewesen. Damit hätte er umgehen können. Dabei hätte er etwas tun können.

Aber Steve zitterte nicht, er weinte nicht, schrie nicht, war nicht wütend oder panisch, er war - reglos.

Das Eis, das Alastair's Stimme in ihm zurückgelassen hatte, breitete sich aus, ließ ihn von Innen heraus erstarren, während es seine Venen entlang fror, durch Muskeln, Magen, Milz und Niere, bis in seine luftarmen Lungen und sein müdes Herz. Es vereiste seine Ohren, sein Trommelfell und ließ ihn nur mit dem Echo der Erinnerungen zurück, die durch seinen Kopf tobten.
Steves Schreie, Schmerzen, Schluchzen.
Er war so stark gewesen. Wie konnte-

Wie hatte das passieren können?

Dean schob sanft seine Hand unter Steves, bettete sie auf seiner Handfläche, hielt sie in seiner, vorsichtig, zärtlich, um den Katheter in seinem Handrücken nicht zu stören, und ließ seine Finger zärtlich über die weiße Haut streichen.

Seine Fingerknöchel waren rau und aufgeschürft, rotviolette Wunden, so prominent, so falsch.
Alles war so falsch.
Es erstickte ihn.
Leer und unwirklich und - einfach nicht richtig.

Wie hatte das passieren können?
Wie hatte er das zulassen können?

Anstatt Steves whiskeyrauem Meeresrauschen hörte er nur das Ein- und Aus- des Beatmungsgeräts, dessen Tubus die pinken Lippen verdeckte, die er vor so kurzer Zeit und vor so langer Ewigkeit gekostet hatte, und das rhythmische Piepsen des Herzmonitors, anstatt seiner tiefblauen Augen sah er die zahlreichen dunkellilanen Spuren, die Alastair an ihm hinterlassen hatte, an seiner Schläfe, seinem Kinn, seinem Hals, seinen Armen, durchzogen von dem steril weißen Flickenteppich der Verbände, die sich über Schnitt- und Stichwunden legten, versteckt und offen, halb verdeckt von dem krankweißen Krankenhaushemd.
Alles war so falsch, so, so falsch.

“Die Hypothermie gehört zur Behandlung.” Dr. MacLeod stand bei der Tür und Dean konnte spüren, wie sie ihn beobachtete, wie sie und Sam ihm dabei zusahen, wie er den Stuhl neben Steves Bett näher zog und sich darauf setzte, wie seine Hände sich vorsichtig um die kalten Finger schlossen.
Er konnte nichts tun.
Er konnte ihn nicht halten, nicht wiegen, [s]nicht küssen
.
Aber er würde hier sein.
Hier bei ihm, direkt bei ihm.
Solange, bis er aufwachen und ihn wegschicken würde.
Er würde ihn nicht alleine lassen.

Sam wandte sich ab - Dean hörte die Schritte, sah es aus den Augenwinkeln - und versuchte Dr. MacLeod in den Flur zu führen, ihnen einen Moment Ruhe zu geben.
Dean war sich sicher, sie sah trotzdem, wie seine Lippen sanft Steves Fingerspitzen streiften.


Er durfte bleiben.
(Er musste bleiben!)
Er war Steves Notfallkontakt, er war so etwas wie seine Familie - er durfte bleiben.
Sonst war niemand hier, sonst war er ganz allein.

Deans Augen wichen keinen Moment von Steves blassem Gesicht, von den violetten, blutigen Schattierungen und Kratzern auf seiner weißen Haut; Er war hier. Hier bei ihm.
Niemand durfte so alleine sein.
Er würde ihn nicht alleine lassen.

Sam war Deans Familie und sie waren nicht allein, also blieb er auch. Dean wusste nicht, ob jemand protestiert hatte, aber niemand hatte die Krankenhaussecurity gerufen und es war ihm auch egal.
Sie würden hier bleiben.


Es dauerte nicht lange, nachdem Dean und Sam Stellung bezogen hatten, Sam in der anderen Ecke des Raums auf einer schmalen Bank und immer noch am Handy und Dean weiterhin an Steves Bett, bis Charlie auftauchte.
Sie drückte Dean, küsste seine Haare, umrundete das Bett, hauchte einen sanften Kuss auf eine einigermaßen unverletzte Stelle in Steves Gesicht, setzte sich neben Sam auf die Bank und klappte den mitgebrachten Laptop auf.

Bess war wirklich ein Goldstück - und brachte ihnen in einer ruhigen Minute drei Kaffee.



“Hm.” Charlies Stirnrunzeln dröhnte so laut durch den Raum, dass Dean nicht mal die Augen von Steve abwenden musste, um es zu sehen.
Deans Finger waren taub von der halb gefalteten Position auf Steves Bett, seine Hand immer noch sanft in Deans Handfläche gebetet, immer noch so kalt, seine Haut so weiß und in Deans Innerem zogen kalte, taube Winde ihre Kreise.

“Was?” Seine Stimme war steif, ungenutzt und rau, als wäre sie wie Wasser in einem zugedrehten Hahn schal geworden; Er räusperte sich.

“Steve war wirklich gut versichert - bis vor circa einem Jahr. Dann hat er alles heruntergestuft. Aber ich verstehe nicht, warum. Der Gewinn aus dem Laden hat locker ausgereicht, um die bessere Krankenversicherung zu behalten, die Umsätze sind in den letzten Jahren immer weiter gestiegen.”

“Was?” Dean hob den Blick und sein Nacken protestierte über die erste Bewegung seit einer kleinen Ewigkeit.
Draußen war es dunkel geworden.
Wann war es draußen dunkel geworden?
Wie spät war es?

Er schüttelte den Gedanken ab und blickte vom Fenster weiter zu Charlie.

Sie hob nur das Klemmbrett hoch, das Bess ihm heute, als er hier angekommen war, in die Hand gedrückt hatte. Wann hatte sie-
“Ich hab seine Daten gecheckt, um das Formular auszufüllen. - Aber ich verstehe es wirklich nicht. Wieso kürzt er seine Versicherungsleistungen, wenn er es sich leisten kann?”

Dean runzelte die Stirn. “Du hast seine Daten rausgesucht? Wo?”

Ihre Augen hoben sich für einen kurzen, tadelnden Blick über den Laptopbildschirm und Dean winkte ergeben mit einer Hand ab.
Die andere hielt weiterhin locker Steves eiskalte Finger.
(Er vermisste ihre warme Stärke.) 

“Ich hab sie eben gefunden,”, eine dürftige Rechtfertigung mit einem kurzen, sicherstellenden Blick zur offenen Zimmertür,, “aber darum geht es nicht.” Ihre Stirn war in tiefe, nachdenkliche Falten gezogen. “Es geht darum, dass ich nicht weiß, wo das Geld hin ist.”

Sam beugte sich interessiert zu ihr und ließ seine Augen über ihren Bildschirm gleiten.
“Inwiefern?”

“Na hier.” Dean hörte ihre Finger eilig über die Tasten fliegen - und er wusste, er musste sehen, sollte sehen, was jetzt auftauchte.
Ein Protest schlug durch seinen Herzmuskel, laut und kalt und unwillig, aber er zog tief die Luft ein und ließ noch einmal seinen Daumen über Steves Handrücken streichen.
Er drückte sanft aber bestimmt Steves Finger, bevor er aufstand.
Er wäre gleich wieder da, nur einen Moment. Steve war nicht alleine. Er war hier.

Seine Gelenke, müde, steif und taub, protestierten mit ziehenden Schmerzen gegen das Aufstehen - oder das lange Sitzen. Er musste sich strecken, lang, fest und seine Knochen, Knie, Knöchel, Rücken, Nacken, sprangen mit einem widerspenstig wohltuenden Knacken zurück in richtige Positionen.
Seine Beine waren eingeschlafen, stachen und brannten unter dem wieder erweckten Blutfluss und er fluchte leise, während er zu Charlie humpelte. Er beugte sich neben ihr nach unten und blickte ebenfalls auf den Bildschirm. “Hier, das ist die Steuererklärung für den Laden. Siehst du die Gewinne, die erzielt wurden? - Und jetzt hier, sein Kontoauszug.”

Wie kam sie an seinen- Vollkommen egal. Er sollte Charlie wirklich nicht mehr in Frage stellen, wenn es um Magie am Computer ging.

Was nicht egal war, waren die Zahlen, die ihn vom Bildschirm aus ansprangen.
Es waren nicht einmal zweihundert Dollar auf Steves Konto.

Fuck.

Kalt, klumpige Übelkeit stieg aus seinem Magen seinen Hals hinauf und er schluckte hart dagegen an.
“Alastair. - Alastair hat das Geld.”

Charlie schien noch einen kurzen Moment verwirrt, während Sam fast ergeben gegen die Rückenlehne sank. “Fuck.”

“Was? Nein. Wieso sollte-” Ihre Stirn zog sich in tiefere Falten, wütende Falten. “Ganz bestimmt nicht, Bitch. Er muss es auch irgendwo hingeschafft haben! Und ich werde es finden.” Sie ließ ihre Fingerknöchel knacken und kurz darauf füllte schnelles, klackerndes Tippen den Raum.

“Ja, sehr gut. Ich nehm es auch gleich in die Anklageschrift mit auf.”

Dean nickte, während Sam wieder in seinem Handy versank und- Was?
“Anklageschrift?”

Sam blinzelte einen Moment, fast etwas ertappt, bevor er sich räusperte, auf der Bank umher rutschte und nervös auf die Rückseite seines Handys trommelte.
“Ich- ich dachte, vermutlich hat Steve keinen Anwalt. Da wollte ich schon mal die Anklageschrift vorbereiten. Dieser Wichser hat immerhin überlebt und er hat Steve verletzt und misshandelt. Ich bin schon seit ich hier bin, mit Bela in Kontakt. Der Arsch wird sich wünschen, nie Hand an Steve gelegt zu haben!"

Dean war sprachlos, nicht mit kaltem Entsetzen oder würgender Übelkeit sondern mit warmen, schlagendem Herzen, das mit jedem Satz eine neue Welle Zuneigung durch seine Adern pumpte, bis sie so voll waren, dass sie ihm die Kehle zuschnürten.

Er schnaubte fast ungläubig, bevor er mehrfach nickte und versuchte heimlich an seinen verräterischen Augenwinkeln zu wischen.
Er konnte nichts tun.
Er konnte Steve nicht halten, ihn nicht wiegen, beruhigen und helfen.
Aber Charlie und Sam schafften es, sie waren da, für Steve. Einfach- so.
“Danke.” Seine Stimme klang klobig, feucht gekocht von der Wärme in seinen Andern und er drückte Charlie einen Kuss auf die feuerroten Haare, während er Sam durch seine Haare fuhr. “Ich- Danke. Steve wird-”

Charlie unterbrach ihn mit einem ungeduldigen Wedeln ihrer Hand.
“Lass uns nur machen, Dean. Dafür ist Familie da.”

Er schnaubte über die Nonchalance in ihren Worten und nickte, während sein Blick zurück zu Steve ging.
Familie, ja.
Gott, er war ihnen so dankbar.


“Wow, seht ihr beschissen aus.”
Dean schreckte aus dem Stuhl hoch, in dem er neben Steves Bett eingeschlafen war, und blinzelte einen Moment verwirrt umher, bis er die Situation einordnen konnte.
Anruf.
Alastair.
Steve.
Krankenhaus.

Sein Herz machte einen panischen, erschrockenen Satz, aber als sich seine Augen ruckartig auf Steve richteten, lag er immer noch dort, weiß wie Meereswellen an einem Wintermorgen, reglos und kalt.

Garth ließ ihn kaum alles richtig erfassen, bevor er ihm den Papphalter, in dem vier Kaffeebecher steckten, hin hielt.
Dean blinzelte ein paar Mal, zog den vordersten Kaffee heraus, nahm einen Donut aus der Schachtel, die Garth ihm als nächstes präsentierte und rieb sich mit dem Handrücken träge die Augen.

Sein Rücken und Nacken brannte bei jeder Bewegung und seine Augen waren verklebt mit unruhigem, erholungslosem Schlaf.
Er brauchte vermutlich dringend eine Dusche, etwas Neues anzuziehen und - Gott, der Kaffee schmeckte fantastisch.

Dean brummte zufrieden und nahm so schnell, wie es die Hitze in dem Getränk zuließ, weitere Schlucke.
“Danke, Garth.” Oh, wow, der Donut war so frisch, er war noch warm. Wie spät war es, verdammt?

Garth grinste ihn an und zwinkerte, während er Charlie und Sam, beide mindestens so derangiert wie er, ebenfalls Kaffeebecher und Donuts reichte.

Dean rieb erneut mit dem Handrücken an seinem Auge, bevor er vorsichtig aufstand. Seine Muskeln brannten wütend und er rollte mit den Schultern.
“Was machst du hier?”

Garth hatte die Schachtel Donuts auf dem Fensterbrett hinter Charlie und Sam positioniert und nippte ebenfalls an seinem Kaffee. Seine Augen glitten an Dean vorbei direkt zu Steve und Dean schnaubte leise, ehe er nickte.
Klar.

“Dank-”

“Wie viele werden es denn noch?” Bess warme Apfelkuchenstimme zog zimtstreng durch den Raum und Dean klappte automatisch den Mund zu - Garths klappte auf.

Dean bemerkte, wie ihr Blick sich streng auf ihn legte, aber dann abwich, Garth musterte und- etwas war plötzlich anders, als sie ihre blonden Haare hinter ihr Ohr strich und zu Steve ging.

Dean machte vollkommen automatisch Platz, während Bess Geräte und Infusionen überprüfte, Verbände kontrollierte und - immer wieder leicht über die Schulter sah.
Zu Garth.

War einer mehr denn wirklich so schlimm?

“Entschuldigung, wir- wollen Sie nicht überrennen. Wir sind-”

“Möchten Sie einen Donut?”
Deans Kopf zuckte zu Garth, der, ohne den Blick von Bess abzuwenden, nach der Schachtel gegriffen hatte. Charlie war notdürftig ausgewichen, um das zu ermöglichen. “Es gibt noch welche mit Gelee. Himbeere. Möchten Sie?”

Bess war mit Steve fertig und scheinbar zufrieden, nachdem sie die dünne Decke über seiner Brust glattgezogen hatte, und drehte sich zu Garth um.
“Oh, das- Ist so lieb!” - War sie rot? - “Aber, ich kann nicht. Das ist ein Patientenzimmer, ich meine- Ich arbeite und habe gerade keine Pause. Aber- Danke. Mr-?”

“Garth, mein Name ist Garth.”

“Ich heiße Bess.” Dean sah etwas fassungslos dabei zu, wie die beiden sich die Hände gaben - und eine deutlich zu lange Zeit nicht losließen, Charlie dagegen frohlockte geradezu, während sie dem Schauspiel folgte.

Aus Bess’ Hosentasche klang ein lautes Piepsen - und sie ließ zur sichtlichen Enttäuschung von Garth - seine Hand los.
“Oh, ich- Ich muss- Es war schön, Sie kennen zu lernen, Garth. Ich- Ja.”
Sie verschwand aus Steves Zimmer, aber nicht ohne noch einen Blick über die Schulter zu werfen.

Garthe beugte sich so weit zur Seite, wie er konnte, um sie so lange wie möglich im Blick zu haben, und Dean schüttelte einfach den Kopf, bevor er seinen zu kleinen Kaffee leerte.
Unglaublich.
Unglaublich.

Dean räusperte sich streng, als Garth sich immer noch verbog wie ein Baustein aus Tetris, obwohl Bess bereits lange den Flur hinab verschwunden war.

“Oh, ehm - sorry. Ich wollte nicht-” Garth lächelte schief und nahm einen großen Schluck Kaffee. “Eine nette Frau, nicht wahr?” Charlie gurgelte kichernd in ihrem Kaffee, Dean verdrehte die Augen und Garth wechselte eilig das Thema: “Ja, ehm. Sag mal, Dean, wie lautet die Adresse von Steves Laden?”

“Steves Laden? Wieso?”

Garth zuckte nur mit den Schultern, leerte seinen Kaffee und nahm Dean in vollkommener Selbstverständlichkeit seinen leeren Becher ab.
“Ich wollte mal vorbei schauen, ob alles in Ordnung ist. Immerhin wissen die zwei Mädchen nicht, was passiert ist, oder?”

Dean konnte spüren, wie seine Gesichtszüge entgleisten.
Natürlich, verdammt!
Steve hatte einen Laden! Einen Job, er musste- Jemand musste-

“Hey, schon okay. Ich kümmere mich darum.” Garth machte Finger Guns und zwinkerte. “Dafür ist Familie doch da! Schreib mir einfach die Adresse!”

Bevor Dean widersprechen konnte, tackelte Garth ihn in einer eisernen Umarmung, dann Charlie und Sam, um schließlich sanft Steves Schienbein unter der Decke zu tätscheln.


Der Kaffee hatte ihn gewärmt.
Sein Innerstes fühlte sich nicht mehr kalt an, nicht mehr so, als würden Eiskristalle bei jeder Bewegung an seinen Venen kratzen und in seine Muskeln stechen.
Der Kaffee, Charlies eifriges Tippen, wie Sam immer wieder den Raum verließ, um mit Bela oder der Polizei zu telefonieren, das Bess sanft seine Schulter drückte, nachdem sie nach Steve gesehen hatte und das Garth, als er ein paar Stunden später mit einigen Dosen Cola und frischen Sandwiches wieder kam, die selbe blaue Veste trug, wie Steve sie im Laden getragen hatte.
Sein Namensschild war handgeschrieben und während Dean den Stuhl an Steves Bett räumte, um etwas zu essen, setzte sich Garth hin, legte ihm vorsichtig die Hand auf den Unterarm, und flüsterte leise Statusberichte in sein Ohr, darüber, wie es den Mädchen ging, dass er sich einen Überblick verschafft hatte und diese Woche wohl noch eine Bestellung für weitere Ware rausgehen musste.
Charlie versprach dabei zu helfen, dass Garth in das System kam.

All das wärmte ihn, ließ seine Adern unter Zuneigung, Dankbarkeit und Sehnsucht weiten, bis sein Hals nur noch schwer um einen Kloß herum schlucken konnte.
Steve war nicht allein.
Sie waren alle hier, alle für ihn da.
Dean konnte die Dankbarkeit nicht in Worte fassen, konnte die Liebe, die für alle hier in ihm pulsierte, kaum greifen.

Steve wurde geliebt, von jedem hier. Er wurde geliebt und er war nicht allein.
Er hatte eine Familie.

Dean ließ langsam die Cola-Dose sinken, aus der er gerade einen Schluck genommen hatte.

Steve hatte Familie.

Fuck.

“Dean?” Sam’s Stirnrunzeln war auf jedem einzelnen Buchstaben hörbar und Dean schüttelte leicht den Kopf.
“Steve hat-” Sein Mund klappte zu, er knetete einen Moment fest die Lippen aufeinander, während seine Augen stur auf Steves reglosen Körper gerichtet waren.
Steves Familie hatte ein Recht zu wissen, dass Steve im Krankenhaus war.
Fuck.
Fuck.

Er schluckte schwer, bevor er sich zu Sam drehte.

“Ich- ich muss was erledigen. Ihr- Ihr bleibt hier, oder? Ihr-” Seine Augen glitten zurück zu Steve. “Er soll nicht alleine sein.”

Sams Stirn zog sich in fragende, nachdenkliche Falten, aber er nickte. “Klar, wir bleiben hier.”

“Danke, Sammy!”

Er küsste Steve auf die Stirn, sanft und federleicht, bevor er ging.


“Dean. Winchester.”
Das tiefe, sonore Brummen von Viktors erdwarmer Stimme klang bis in den letzten Buchstaben genervt und Dean drehte sich mit einem einstudierten, breiten Grinsen zu ihm um.

“Victor!”

“Was ist passiert?” Der plötzliche Umschwung von genervten, rollenden Erdhügeln zu Viktors erdwarmer Sorge ließ Dean einen halben Schritt zurück machen. Er räusperte sich, zu streng, zu rau, als allein der Gedanke eine erneute Welle kalter Panik durch seine Adern jagte.
Auf dem Weg hierher hatte er dreimal anhalten müssen, nur um zu atmen.

Es gefiel ihm nicht, nicht bei Steve zu sein.
Er wollte seine kalte Hand in seiner halten, ihm so viel Wärme und Nähe geben, wie er konnte, wollte die seidenweichen Haare aus seiner Stirn streichen und dabei zusehen, wie Bess und Dr MacLeod zufrieden nickten, wenn sie ihn untersuchten.
Aber das hier war wichtig.

Das hier war für Steve.

Es kostete Dean Mühe, das Grinsen wieder auf seine Lippen zu zerren, aber als Victor missbilligend die Hände in die Hüften stemmte, ließ er es fallen.
“Ich brauche deine Hilfe.”

“Hah!” Victor schlug mit der Akte, die er in der Hand hatte, spielerisch nach Dean und ging an ihm vorbei. “Du? Meine Hilfe? Nach all den schlaflosen Nächten, an denen du Schuld warst, sollte ich dir Schlafmittel in Rechnung stellen! Eine Frechheit, dass du noch mehr forderst!”
Das Grinsen kam diesmal von selbst zurück auf Deans Lippen, als er Victor zu seinem Schreibtisch folgte.

Sie hatten eine Vergangenheit, wenn man das so nennen wollte; Dean war nicht immer das Paradebeispiel eines anständigen Bürgers gewesen, wie er es jetzt meistens versuchte zu sein. Während dieser turbulenten Zeit - Bobby konnte auch ein Lied davon singen - war er mehr als einmal mit Victor, damals noch Streifenpolizist, aneinandergeraten.
Es war nie etwas wirklich schlimmes passiert und nach dem Alter, Weisheit und vor allem ein Ziel Dean aus dem Gröbsten rausgehalten hatten und er beim Notruf angefangen hatte, waren sie sich wieder öfter begegnet.
Wobei Victor keine Begegnung ausließ, um den alten Geschichten nach zu hängen - und Dean bedankte sich währenddessen dafür, dass Victor tragende Säule seines Images war.
Es war gut gemeintes Geplänkel und es ließ Spannung und Härte aus seinen Muskeln schmelzen, wie es nur wenige konnten.

Victor warf die Akte auf den Tisch und lehnte sich mit der Hüfte dagegen, die Arme locker vor der Brust verschränkt.
“Also, wieso kommst du in mein Revier, das überhaupt nicht dein Revier ist, siehst dabei aus, als hättest du seit Tagen nicht geschlafen und willst meine Hilfe?”
Die einzigen, die ihm sonst so direkt und ohne Umschweife auf den Zahn fühlen konnten, waren Sammy und Bobby.

Dean räusperte sich erneut, während seine Hand erdend durch die kurzen Haare fuhr.

“Steve ist im Krankenhaus.” Victor’s Augenbraue zog sich nach oben, aber er wartete geduldig, bis Dean fortfuhr. “Sein Freund hat- Sein Ex-Freund- Es war schlimm.” Es kostete Kraft, dem Echo in seinem Kopf nicht nachzugeben, nicht in den Schreien, dem Schluchzen und den Schmerzen unterzugehen, die durch sein Trommelfell zogen, Kraft, die er kaum noch hatte.
Seine Hände zitterten wieder und er schob sie resolut in die Hosentaschen. “Er ist ganz allein. Er hat keine Blutsverwandten.” Er konnte aus den Augenwinkeln sehen, wie Victor’s Kopf fragend zur Seite kippte, eine stumme Frage, wie er damit helfen können sollte. Dean benetzte mit der Zunge flüchtig seine Unterlippe. “Die Sache ist, Steve hat Familie. Sie waren damals alle im selben Waisenhaus, haben sich aber im letzten Jahr aus den Augen verloren.”

Victor’s Schultern sanken, als ihm klar wurde, was Dean wollte. “Dean…”

“Es ist nur- Sie sind Geschwister, Victor, okay? Blut oder nicht. Ich meine, es ist seine Schwester und sein Bruder und-”

“Dean…”

“Victor-”

“Dean, ich kann nicht.”

Dean biss sich auf die Unterlippe und schloss einen Moment die Augen.
“Victor… Bitte.”

“Ich kann dir nicht einfach die Adresse von jemandem geben, mit dem du nichts zu tun hast oder haben solltest. Du hast selbst gesagt, sie haben seit einem Jahr keinen Kontakt mehr. Wer weiß, ob sie überhaupt noch etwas davon wissen möchten!”

Als seine Zähne in der trockenen Haut seiner Lippe zu brennen begannen, presste er die Lippen aufeinander und nickte langsam, während er Victors erdwarmen Worten lauschte.

“Es ist nur- Egal, wie sehr ich mich mit Sam gestritten hätte, egal was passiert wäre. Wenn er im Krankenhaus wäre-”

Victors Hände fielen aus der Verschränkung vor seiner Brust und er seufzte lang und gedehnt.
“Dann würdest du es wissen wollen.”

“Dann würde ich es wissen wollen.”

Dean konnte sehen, wie Victor zur Decke blickte, wie seine Lippen sich leicht bewegten, als er lautlos bis zehn zählte.
“Fein, meinetwegen. Sag mir ihre Namen, dann seh ich, ob ich etwas finden kann.”

Er holte tief Luft, hielt sie einen Moment unter Victors forschendem Blick und ließ sie dann gepresst und geräuschvoll wieder aus. “Ich kenne ihre Namen nicht. Sie heißt Anna, er heißt Gabriel. Aber ich weiß, in welchem Waisenhaus sie waren!”

“Ich hasse dich.”


“Ja, Father Joshua.” Victor starrte ihn derart genervt und streng an, dass es Dean beinahe leid tat, aber nur beinahe. Endlich, endlich hatten sie den Richtigen am Telefon, einen alten Priester, der im Waisenhaus vor dreißig Jahren gearbeitet hatte - und ein erstaunlich gutes Gedächtnis hatte, zumindest wirkte es so. “Ihre Namen waren Castiel, Anna und Gabriel. Können Sie sich an die Nachnamen erinnern?”
Victor klopfte ungeduldig und rhythmisch mit einem Kugelschreiber gegen den kleinen Block vor ihm, immer wieder nickend - und dann, kritzelte er etwas auf den Block. “Ah, ja. Milton. Ja, fantastisch. Vielen Dank, Father Joshua. Ja, danke, ja. Danke. Auf Wiederhören, danke. Ja-” Er legte auf und ließ sich mit einem lauten Stöhnen in seinem Ledersessel zurückfallen.

Er rieb sich einmal kurz die Augen, bevor er sich ruckartig aufsetzte, sich seiner Tastatur zuwandte und ein paar Buchstaben in eine Suchzeile tippte.

“Er erinnert sich nicht mehr an Gabriel’s Namen, aber Anna…- heißt immer noch mit Nachnamen Milton und besitzt einen Führerschein für Illinoise."
Seine schwungvolle Handschrift setzte eine Adresse unter den Namen auf den Block, bevor er das Papier abzog und es Dean reichte. “Du schuldest mir etwas, Winchester. Etwas großes.”

Dean zog triumphal den Zettel zwischen Victors Fingern hervor.
“Was du möchtest, Victor!”

Anna Milton, nach wie vor wohnhaft in Chicago.


Das Haus, in dem Anna laut den Informationen aus ihrem Führerschein wohnte, war klein, aber gepflegt.
Das Blumenbeet hinter dem frisch gestrichenen Zaun war karg von der kalten Novemberluft aber ein Apfelbaum zeichnete mit bunten Blättern Farbe in den Garten, es gab Vorhänge an den Fenstern und Topfpflanzen auf den Simsen.

Dean räusperte sich und zog den schwarzen Pullover unter seiner Jacke zurecht.
Er war extra noch einmal nach Hause gefahren, hatte geduscht, sich umgezogen und eine Nachricht an Sam geschrieben.
Steve ging es unverändert.

Er wollte einen- Es ging nicht darum, dass er einen guten Eindruck machte.
Aber er wollte Anna nicht erschrecken; Die Nachricht, die er zu überbringen hatte, war schlimm genug. Da musste er nicht auch noch so aussehen, als hätte er seit Tagen weder geschlafen noch geduscht.

Ein tiefer Atemzug, zwei, drei - halfen nicht, damit er sich ruhiger fühlte.

Gott, er wusste nicht einmal, was er eigentlich sagen sollte.
Was, wenn sie nicht zu Hause war?

Dean knetete seine Lippen aufeinander, während er die Eingangstür anstarrte.

Was, wenn sie es wirklich nicht wissen wollte?

Ein kalter, harter Knoten bildete sich in seinem Magen und er schluckte schwer.

Nein, das glaubte er nicht.
Steve- Er liebte sie so sehr. Sie könnte nicht-

Er zog tief die Luft ein und stieß sie durch den Mund wieder aus.

All das Grübeln brachte nichts.
Er musste das hinter sich bringen, für Steve.

Das hier war für Steve und sobald er mit Anna geredet hatte, könnte er zurück zum Krankenhaus fahren, sich wieder neben sein Bett setzen und seine kalte Hand halten, bis sie seine Warme annahm.

“Okay, los.” Er murmelte es zu sich, eine letzte Aufforderung, bevor er auf den kleinen, goldenen Klingelknopf neben der Haustür drückte.
Der Klang war melodisch, weich, fast fröhlich.

Es dauerte nicht lange, bis sich Bewegung hinter der Milchglasscheibe abzeichnete und die Tür aufschwang:

Dean wusste, dass es rational keine Familienähnlichkeit geben konnte, er wusste, dass es keinen Sinn machen würde, nach Ähnlichkeiten zu suchen, aber dennoch war das erste, das er bemerkte, der Blick in ihren grünen Augen.

Sie hatte ihre roten Haare locker nach oben gebunden, ein Bleistift steckte hinter ihrem Ohr und sie sah ihn forschend an; Ein starker und kräftiger Blick, auf eine unbestimmte Art entschlossen, wie er Steve schon manchmal gesehen hatte, wenn er ganz er selbst sein konnte, weil er alles andere vergessen konnte. So, so selten, aber er erinnerte sich an diesen Ausdruck.

Ihre Stirn runzelte sich leicht und eine Spur Unruhe zog in ihre Glieder, ihre Augen, die feinen Linien um ihre Lippen, vermutlich angespornt von Deans eigener Getriebenheit. 
“Ja, bitte?”

Dean schluckte erneut, einen Moment perplex, aus dem Takt, und räusperte sich dann eilig.

“Eh - Entschuldigung. Ehm - Mrs Milton? Anna Milton?”

Sie zog eine Augenbraue hoch und nickte bestätigend.

Dean räusperte sich wieder, korrigierte seinen Stand, aufrecht, gerade, und zog ein letztes Mal tief Luft ein.
Fuck, er wusste ja nicht mal, was er sagen sollte.
Wie er es sagen sollte.

“Ich- Ich bin-”
Allein die Erinnerung, Schreie, Schmerzen, Schluchzen, konnte so laut in seinen Ohren dröhnen, dass er kaum an etwas anderes denken konnte.
Es auszusprechen- Wie sollte er es aussprechen?
“Ich bin wegen- Ich bin wegen Castiel hier.”
Der Name fühlte sich so fremd an auf seiner Zunge, wie ein ungewohnter Geschmack. Es fühlte sich nicht gut an, nicht richtig Steve so zu nennen.
Steve hatte gewollt, dass Dean ihn Steve nannte.
Er hatte nicht das Recht, ihn Castiel zu nennen.
Er räusperte sich, versuchte einen Moment, den fremden Geschmack hinunter zu schlucken - und beinahe hätte er es nicht bemerkt.

Beinahe hätte er verpasst, wie Annas Finger sich fester in das Holz der Tür krallten, wie eine fleckige Röte ihren Hals hinauf stieg, bis in ihre Wangen, wie ihre Augen feucht wurden, wie ihre Unterlippe begann zu zittern.
Sie zog einen hohen, flachen Atemzug in ihre Lungen, bevor sie sprechen konnte.
“Ist er- tot?”
Ihre Stimme stob auseinander wie im Wind aufgelöste Pusteblumen. Sie schniefte, große Tränen hielten sich mit letzter Kraft an ihren Wimpern fest, während sie weitere Worte hervor kämpfte. “Hat er- hat er ihn-”

Deans Innerstes verkrampfte in dem eiskalten Schock, den allein der Gedanke durch seine Adern vibrieren ließ, einen Moment sprachlos, hilflos, und ihm entglitten die Gesichtszüge.

Großer Gott.
“Nein!”
Es brach aus ihm heraus, stark und sicher, ein Befreiungsschlag für sein erschrockenes Herz, ebenso wie für ihres und sie bedeckte ihren zitternden Mund schnell mit ihrer Hand, senkte ihren Blick, um die Tränen zu verstecken, die ihre Wangen hinunter rollten. Dean brauchte zwei Schritte, bis er bei ihr war und sie bestimmt in die Arme schloss.

Ihr Schluchzen an seiner Brust klang wie heulende Winde, die sich pfeifend an den scharfen Kanten von Blumenblättern schnitten.
“Entschuldigung, es tut mir Leid, es tut mir Leid!”

“Hey, schon okay, alles okay.”

Dean hielt sie, den bebenden kleinen Körper, strich durch ihre herbstlaubroten Haare und wartete, bis das Blumenwiesenwindschluchzen schwächer wurde und das Zittern weniger prominent in ihren Muskeln war. Zugegeben, er brauchte diesen Moment auch, einen Moment Halt, um sich zu sammeln, sich zu sortieren.

Es war nicht egal, Gott, es war ihr so absolut nicht egal!
Sie war Steves Familie.

Anna zog noch einmal tief und feucht Luft ein und drückte sich dann von Dean weg, fuhr kopfschüttelnd mit den Händen unter ihren Augen entlang und über ihre Wangen.
“Oh, mein Gott, es tut mir so Leid. Bitte, kommen Sie rein, bitte. Entschuldigung!” Sie winkte Dean ganz von der Schwelle, auf der er sie gehalten hatte, weg und schloss die Tür.

Dean folgte und blieb wartend stehen, während Anna zu einem Sideboard ging, um ein Taschentuch aus einer Kleenex-Packung zu zupfen. Sie putzte sich so diskret wie möglich die Nase. “Es tut mir so Leid, wirklich. Ich- Nornalerweise-” Sie winkte ihre eigenen Worte beiseite und versuchte trotz der roten Flecken in ihrem Gesicht und der feuchten Augen ein Lächeln auf ihre Lippen zu ziehen. “Also, Castiel geht es gut! - Warum sind Sie dann hier, Mr-?”

Er konnte spüren, wie seine Kiefermuskeln hart wurden, wie sich seine Zähne aufeinander pressten.

Anna beobachtete ihn und das Lächeln sank wie Blütenblätter in einem schwindenden Windhauch. “Es geht ihm- Es geht ihm doch gut, oder?”

Dean kaute kurz auf seiner Lippe, bevor er es fertig brachte, den Kopf zu schütteln.
“Mein Name ist Dean. Ich bin-” Er zögerte, seine Zunge plötzlich bleischwer in seinem Mund. Aber was sollte er sonst sagen? Er hoffte nur, es wäre noch wahr. Nach allem, was passiert war, was er ihm angetan hatte und was Steve hatte erleiden müssen. “Ich bin ein Freund von Steve. Er- Er ist im Krankenhaus und- Es ist ernst.”


Weitere Tränen waren über Annas Wangen gerollt, kalter, nüchterner Schmerz in ihren Augen, aber kein windscharfes Schluchzen mehr.
Dean hatte geholfen, Tee zu kochen, bevor sie sich ins Wohnzimmer gesetzt hatten, auf weiche, dunkelgrüne Polstermöbel, von denen Dean sich fragte, ob Steve auch einmal hier gesessen hatte, Tee trinkend mit seiner Schwester.

Er versuchte, ihr alles zu erzählen und sie stellte strukturierte Fragen, konzentriert und klar und nur manchmal wacklig von neuen Tränen, die über ihre Wangen liefen.
Er erzählte ihr, dass er Steve so nannte, weil es ein Spitzname war, erzählte ihr, dass es Steve nicht gut gegangen war, als sie sich kennengelernt hatten, dass sie sich angefreundet hatten.
Er erzählte ihr, was er alles von ihr und Gabriel wusste, dass er von der Orchidee wusste, die Anna ihm geschenkt hatte, und die Steve immer noch so viel bedeutete, dass Steve sie liebte und sie vermisste.
Dass Steve sie immer noch als Familie betrachtete, egal, was passiert war.

Er erzählte ihr, in groben Zügen, was Alastair getan hatte, wie Alastair ihn geschlagen hatte, wie er ihn gewürgt hatte, wie er ihn so verschreckt hatte, dass er angsterfüllt aus dem Haus gerannt war. 

Er erzählte ihr nicht von dem Kuss und davon, dass er Steve alleine gelassen hatte, als er ihn am meisten gebraucht hatte - und Anna fragte nicht danach.

Sie nickte nur, immer wieder, die heiße Teetasse in festem Griff auf ihrem Schoss, bis der Inhalt kalt geworden war.

“Ich hätte das niemals zulassen dürfen.” Das dünne Windhauchen ihrer Stimme war so leise, dass Dean sie beinahe nicht gehört hätte.

Dean hatte gerade einen Schluck von dem Pfefferminztee genommen und schüttelte den Kopf.
“Es ist nicht Ihre Schuld, Anna.” Sie schnaubte ungläubig. “Wirklich, Menschen wie Alastair - machen etwas mit einem, manipulieren jemanden, bis er nicht mehr weiß wo oben und unten ist. Sie hätten es nicht verhindern können, weil sie es nicht haben kommen sehen. Genauso wenig wie Steve es hat kommen sehen. Niemand hat es kommen sehen.”
Wieso sagst du nie Ich hab es dir doch gesagt?.
Der traurig wütende Seesturm von Steves Stimme hallte dumpf in ihm nach und er musste sich räuspern.
Er hatte es kommen sehen, er hatte es von Anfang an geahnt, hatte alle Zeichen gesehen und Steve nicht ausreichend gewarnt, hatte ihm nicht geholfen, ihm nicht beigestanden.
Es war seine Schuld.

“Aber wir hätten stärker um ihn kämpfen müssen. Wir hätten nicht einfach aufgeben dürfen!” Eine weitere Träne rollte langsam über ihre Wange und sie wischte sie unwirsch weg, als würde sie es sich nicht erlauben wollen, deshalb zu weinen. Als wäre sie zu wütend auf sich selbst, um das zuzulassen. “Wir haben ihn einfach zurückgelassen."

“Anna-”

Ein unkomisches, hohles Lachen entkam ihr und sie schüttelte den Kopf, bevor sie sich eine gelöste rote Strähne zurück hinters Ohr schob.
“Das war seither immer meine größte Angst; Dass wir ihn zurück lassen und eines Tages ein Fremder vor der Tür steht und mir sagt, dass-”
Sie presste die Lippen aufeinander und Dean konnte das Gefühl bis ins letzte Detail verstehen, die Unfähigkeit, etwas so schreckliches auszusprechen.
“Einen Moment dachte ich wirklich-” Sie zog scharf und feucht die Luft ein und wischte neue Tränen aus ihren Augenwinkeln. “Danke.”

Dean blinzelte überrascht.

“Danke, dass wenigstens Sie für ihn da waren.”

Er schluckte, als ihre Worte ihn hart trafen, schmerzhaft, zielgenau auf die wunde, ungeschützte Stelle, die seit dem Telefonat, seit er alles hatte hören müssen, jeden Moment mit Schmerz und Leid in ihm pulsierte, und er schüttelte den Kopf.
“Ich war auch nicht da.” Sein Lächeln war schwach, enttäuscht und kraftlos. “Nicht, als ich ihn hätte beschützen müssen.”
Nicht, als er ihn gebraucht hatte.

Anna runzelte einen Moment die Stirn, bevor sie den Kopf schüttelte und dann eisern nickte und Dean konnte sehen, wie ihr Kinn wieder begann zu zittern und rutschte auf dem Sessel etwas weiter nach vorne, um seine Hand sanft auf ihr Knie zu legen.
“Aber wir können es jetzt sein.”
Sie konnte es jetzt sein; Dean wunderte sich immer noch, ob Steve ihn sehen wollte, sobald er wach war.
Es war selbstsüchtig, sich ihm jetzt so aufzudrängen, wo er sich nicht wehren konnte - wieder! - und Dean wusste das.
Aber er konnte nicht anders.
Wie sollte er-
Er konnte ihn nicht erneut im Stich lassen.
Er wäre da, so lange, bis Steve ihm sagen würde, er solle gehen.

Als sie ihn ansah, sah er den Kampf in den starken, grünen Augen, wie Hoffnung, Angst und Bedauern darin um das Vorrecht stritten, bis sie schließlich schluckte und den Blick auf ihre Teetasse richtete.

“Sind Sie denn sicher, dass er uns sehen will? Wir haben ihn alleine gelassen.”

“Sie sind seine Familie, Anna. Ja, ich bin sicher.”


Anna hatte daraufhin in Windeseile einige Sachen in eine riesige Handtasche gepackt und Gabriel angerufen.
Sie würden ihn in ein paar Stunden im Krankenhaus treffen, scheinbar war er gerade noch in Atlantic City, und Dean brachte Anna ins Krankenhaus.

Er fuhr deutlich vorsichtiger, jetzt, wo er für Steve kostbare Fracht transportierte.


“Dean, Baby! Ich hab’s!”
Charlies frisches, fröhliches Pfefferminzdessert-Trällern umfing ihn fast genauso wirkungsvoll wie eine Umarmung, als er in Steves Zimmer auf der Intensivstation zurückkehrte und er konnte spüren, wie ein großer Teil Anspannung allein deshalb aus seinen Schultern rieselte.

Steve lag nach wie vor reglos im Bett, das rhythmische Ein und Aus des Beatmungsgeräts genauso ein im Hintergrund verschmolzenes Geräusch wie das Piepen des Herzmonitors. 

Er wollte zu Charlie gehen, sie drücken und fragen, wovon zum Teufel sie sprache, wollte Sammy auf die Schulter schlagen, der mittlerweile sein Handy gegen ein Tablet getauscht hatte, er wollte zu Steve gehen, sein Haar aus seiner Stirn streichen und einen sanften, leichten Kuss darauf drücken.

Aber nichts davon war möglich, da kaum einen Augenblick später Anna erschrocken hinter ihm Luft holte.
Er drehte sich zu ihr um, sah, wie sie die Hände vor den Mund geschlagen hatte und mit geweiteten Augen auf ihren kleinen Bruder blickte.
“Oh mein Gott, Castiel.”


Dean hatte, nachdem er Charlie, Anna und Sam einander vorgestellt hatte, Dr. MacLeod gesucht, damit Anna angemessen ins Bild gesetzt werden konnte und seither - saß er nicht neben Steves Bett.
Dort saß Anna; Ihre Hand hielt vorsichtig Steves, ihre Finger strichen verirrte Strähnen aus seinem Gesicht und ihre Hand streichelte seinen Unterarm.

Das war okay, richtig so. Sie war seine Schwester, er wollte sie bei sich haben, da war sich Dean sicherer, als ob Steve ihn an seinem Bett haben wollte.
Trotzdem-
Der Drang ihn zu halten, zu wiegen und zu küssen zu schützen, hatte nicht abgenommen. Es war jetzt nur noch weniger sein Platz als vorher.
Er hatte Steve im Stich gelassen, ihn ausgenutzt.
Er gehörte nicht an dieses Bett. (Gehörte er in diesen Raum?)

“Dean?”

Er zuckte aus seinen Gedanken und drehte den Blick, der auf Steve hängen geblieben war, schnell zurück zu Charlie.
“Ja, sorry, also- Was?”

Sie verdrehte die Augen und blies sich eine rote Strähne aus der Stirn, bevor sie von vorne startete.
Sie hatte Steves Geld gefunden.
Alastair hatte es von Steves Konto abgehoben und angelegt - auf Steves Namen, vermutlich, damit er dafür keine Steuer zahlen musste.
Die Steuererklärung hatte er in Steves Namen gemacht und anhand der Anlage finanziert. Die Gewinne waren auf ein weiteres Konto gegangen, ein ziemlich dickes Konto.
Zugegeben, was auch immer man über Alastair sagen mochte: Er hatte ein Händchen für Finanzen.

Das würde reichen, um Steves Krankenhausrechnung zu begleichen - und da es keinen einzigen Beleg darüber gab, dass Steve zu dem Geld Zugang hatte, das Alastair regelmäßig mit seiner Karte abgehoben hatte, konnte Sam noch weitere Punkte seiner Anklageschrift beisteuern.
Was er auch gleich voller Stolz und Inbrunst tat; Anna hatte bestätigt, dass er jetzt offiziell Steves Anwalt wäre und hatte ihm überschwänglich gedankt.

Es dauerte danach noch circa. fünfundvierzig Minuten, bis ein aalglatter, kleiner Anwalt im Designeranzug im Krankenzimmer erschien.
“Und wer von Ihnen ist Mrs Bradbury? Sie?”
Er deutete auf Charlie, die halb erschrocken, halb verwirrt die Augen aufriss.
“Ich werte das als Bestätigung. - Unterschreiben Sie bitte, hier und hier.”

Dean beugte sich nach vorne, um ebenfalls auf das Formular zu sehen, das der Fremde ihr reichte, während Sam die Augen verdrehte.
“Das ist ein Arbeitsvertrag.”

“Nein, wirklich? Squirrel hier drüben kann lesen. Glückwunsch.”
Der Mann zog einen teuren Kugelschreiber aus der Innentasche seines Jacketts und reichte ihn Charlie.
“Nicht vergessen, hier und hier.”

Charlie griff nach dem Kugelschreiber, als er begann, ungeduldig damit vor ihrer Nase herum zu fuchteln, bevor sie die Blätter straff zog und auffällig genau durch las.
Sie runzelte die Stirn.
“Der ist einen Monat zurück datiert?”

“Ja, weil Sie, mein Liebe, bereits seit einem Monat freischaffend für uns tätig sind. Glücklicherweise sind Sie dadurch damit vertraut, dass man einen Durchsuchungsbefehl braucht, damit man elektronische Nachforschungen zu den Finanzen von potentiellen Opfern und potentiellen Tätern durchführen kann, damit man wiederum das, was man bei diesen Nachforschungen findet vor Gericht verwenden kann.”

“Uhm…”

“Und glücklicherweise haben Sie von uns eben jenen Auftrag zur Durchsuchung der Konten im aktuell vorliegenden Fall erhalten-” Damit zog er ein weiteres Blatt Papier aus seiner Aktentasche hervor. “Haben den Erhalt des Auftrags quittiert - hier unterschreiben - und dadurch einen großen Beitrag zur Anklageschrift geleistet. Vielen Dank. Ihr Honorar wird überwiesen.”

Charlie blinzelte mehrfach, blickte von einem Blatt zum nächsten und dann zu Sam.
Er verdrehte die Augen, nickt aber.
“Das ist Crowley, Fachmann für Schlupflöcher, du kannst unterschreiben. - Danke, Crowley.”

“Nicht für dich, Moose, und ich bin nicht Fachmann für Schlupflöcher, ich bin der verdammte König der Hinterzimmer-Deals, also zügel deine Zunge!”
Er wartete exakt so lange, bis Charlie den letzten I-Punkt in ihrem Namen geschrieben hatte, bevor er schwungvoll Vertrag, Auftrag und Kugelschreiber aus ihren Händen riss.
“Fantastisch. Ich werde Ihnen eine Kopie zukommen lassen.”
Die Blätter verschwanden wieder in der Aktentasche.
“Wenn Sie möchten, können Sie uns gerne weiterhin bei digitalen Nachforschungen unterstützen, Sie haben ein Händchen dafür.”

Er verneigte sich angedeutet, “Squirrel, Moose, Mrs Bradbury, Mrs Milton.”, und drehte sich auf dem Absatz um.

“Fergus! Was machst du hier? Wolltest du deine liebe Mutter besuchen? Du hättest anrufen können, ich habe Patienten.”
Dr. MacLeod stand in dem Türrahmen und musterte Crowley eindringlich, ehe sie zu der kleinen Gruppe im Zimmer blickte. “Er hat sie doch nicht belästigt, oder?”

“Mutter, ich habe hier Klienten!”

Die beiden verließen diskutierend das Zimmer und Dean, ebenso wie Charlie und Anna, sahen Sam verwirrt an.

Er schüttelte den Kopf und hob sein Tablet, um weiter zu arbeiten.
“Fragt nicht…”


Sammy:
Weiß sie es?


Dean runzelte die Stirn, als er die Nachricht auf seinem Handy sah, und blickte fragend zu Sam, der nur einen halben Meter von ihm entfernt saß, nicht mal!, auf der genau verdammt selben Bank wie Dean selbst, direkt neben ihm!
Aber anstatt Deans Starren irgendwie zur Kenntnis zu nehmen, blickte er nur weiter in sein Tablet.
Allerdings bemerkte Dean, wie er die Augenbraue leicht hochzog; Er erwartete eine Antwort.

Deans Augen flackerten einen Moment zu Anna.
Er könnte natürlich so tun, als würde er nicht wissen, was Sam meinte.
Als wäre ihm nicht sofort heiß und kalt geworden, bei diesem einfachen Satz, bei dem Gedanken daran, wie er Steve gegen die Säule gedrängt und geküsst hatte, wie sich seine heiße Haut unter seinen Händen angefühlt hatte, seine seidenweichen Haare, seine Meersalzküsse auf seinen Lippen.
Wie er Steve dabei ausgenutzt hatte, wie er ihn bedrängt und verscheucht hatte.
Wie Steve in der Menschenmenge verschwunden war.
Wie Steve ihn am nächsten Tag angerufen hatte, erstickend in Schmerzen, Schreien und Angst.

Dean hatte ihn geküsst, er hatte ihm gesagt, er solle Alastair verlassen und dann hatte er ihn geküsst und so süß, die Erinnerung war, so schnell sein Herz dabei auch schlug - es stoppte ein paar Schläge später in kaltem Entsetzen.
Er war Schuld an dem, was passiert war.
Er hätte für Steve da sein müssen und ihn nicht- nicht das.

[align=right]Du:
Nein[/align=right]


Anna saß nach wie vor in demselben Stuhl, in dem Dean vorher gesessen hatte, hielt nach wie vor Steves weiße, kalte Hand sanft in ihrer und flüsterte leise Worte zu ihm, die so leicht auf der Blumenwiesenbrise ihrer Stimmen schwebten, dass er sie nur verstehen könnte, wenn er sich wirklich darauf konzentrierte.
Sie verdiente es, dort zu sitzen, bei ihm, neben ihm.
Steve verdiente, dass sie dort saß.

Sein Handy vibrierte wieder in seiner Hand und diesmal stellte Dean es auf stumm, bevor er die Nachricht las.

Sammy:
Du solltest es ihr sagen.
Sie wird es vermutlich ohnehin wissen, so wie du ihn anstarrst.


[align=right]Du:
Ich starre ihn nicht an![/align=right]


Sam verdrehte die Augen und warf Dean einen strafenden, genervten Blick zu.

“Fein-” Sein müdes Waldknarren klang geradezu schnippisch, als er das Tablet weg legte und aufstand. Er streckte sich einmal lang durch, wobei einige Wirbel in seinem Rücken der Reihe nach knackten. “Ich habe genug. Ich brauche einen Kaffee.” Dean erntete noch einen strengen Blick, bevor Sam sich Anna zuwandte.
“Anna, Kaffee?”

Sie schreckte fast hoch, blinzelte ein paar Mal, bevor sie freundlich lächelte und nickte.
“Danke, Sam, das wäre wunderbar.”

Er nickte, kontrollierte, ob sein Geldbeutel in der Hosentasche steckte, formte mit dem Mund das Wort Jerk als er an Dean vorbei ging, Dean erwiderte lautlos Bitch, und verschwand aus dem Raum.

Deans Augen zuckten vorsichtig zurück zu Anna und Steve.
Er war alleine mit ihnen, Charlie hatten sie nach Hause geschickt, um sich auszuruhen und Garth bei dem Warenwirtschaftsprogramm im Laden zu helfen.

Sein Blick glitt vorsichtig über die weiße Gestalt, immer noch wie Meereswellen an einem Wintermorgen, aber weniger - schrecklich, weniger harte Ränder, vielleicht auch mehr Farbe.
Aber Dean wusste nicht, ob es nur daran lag, dass er sich langsam an den Anblick gewöhnte.

Trotzdem; Es - ging ihm besser, augenscheinlich.
Dr. MacLeod war zufrieden mit den Fortschritten, auch wenn Dean sie nicht erkennen konnte.
Morgen, sagte sie, wollten sie prüfen, ob sie die Narkose langsam ausschleichen lassen konnten.
Dann würde es immer noch einige Tage dauern, bis er wirklich wach war, aber- es wäre eine Fortschritt; Das Zittern seiner ozeanblauen Augen unter seinen Lidern, ein eigener Atemzug, eine Bewegung in den langen Fingern.

Dean presste die Lippen aufeinander.
Gott, er wünschte sich nichts mehr, als das Steve wach war, dass er ihn ansah mit diesen großen, tiefen Augen, aber-
Irgendwie fürchtete er sich auch davor.
Steve hatte nicht ihn um Hilfe gebeten. Er hatte einfach den Notruf gewählt.
Das letzte Mal, als sie miteinander gesprochen hatten, wirklich miteinander gesprochen hatten, war in der Mall gewesen.
Als Steve wütend gewesen war, aufgewühlt und verletzt.
Als er sich ihm aufgedrängt hatte.
Als Steve einfach gegangen war.

Was, wenn Steve ihn nicht sehen wollte?
Das wäre sein gutes Recht.
Steve hatte ihn vermutlich als Notfallkontakt eingetragen bevor-
Davor.
Als er noch dachte, Anna und Gabriel wollten nichts mehr von ihm wissen, als er dachte, er wäre allein.

Aber er war nicht allein, Anna war genau hier, bei ihm, seit Stunden und ohne Absicht, das Zimmer heute Nacht noch zu verlassen.
(Wann war es eigentlich Nacht geworden?)

Sollte er es ihr wirklich sagen?
Damit, was?
Sie ihn gleich rauswerfen konnte, ihren kleinen Bruder vor ihm beschützen konnte?
Verdammt.
Ja, eigentlich genau deshalb.
Verdammt!

Dean holte tief Luft.
Er sollte es ihr sagen.

Noch bevor er anfangen konnte, zu sprechen, spürte er, wie sich seine Stimmbänder rau verkeilten und er räusperte sich streng.

“Uhm, Anna-”

Sie drehte sich im Stuhl halb zu ihm um, lächelte, warm, dankbar vollkommen ohne Grund und-

“Hey! Pass auf, wo du hin läufst, Jumbo-Size!"
Er hörte Sam, der vermutlich besagte Jumbo-Size war, unglücklich Murren, aber noch bevor er darauf reagieren konnte, war Anna aufgestanden und zur Tür geeilt.

“Gabriel!”
Nur einen Wimpernschlag später schlang ein kleiner, braunhaariger Mann Anna in seine Arme und hielt sie genauso eisern fest, wie sie ihn.

Dean, ebenfalls aufgestanden, beobachtete die beiden einen Moment, unsicher, was er jetzt tun sollte, bis Sam hinter Gabriel in der Tür auftauchte und - erst leicht missmutig, aber dann verstehend - auf den kleineren Mann hinab sah.

“Oh, Sie müssen Gabriel sein, möchten Sie auch einen Kaffee?”

Gabriel entließ seine Schwester aus seiner Umarmung und drehte sich mit hochgezogener Augenbraue zu Sam um und musterte ihn einmal auffällig von unten nach oben.
“Kommt drauf an, ist da dasselbe drin, was sie dir ins Müsli getan haben?”

Dean prustete und hielt sich schnell die Hand vor den Mund, erntete aber trotzdem einen unwirschen Blick von Steves “großem” Bruder.
Noch bevor einer von ihnen etwas anderes sagen konnte, legte Anna ihm die Hand die Schulter.

“Gabriel, das sind Dean - und Sam.” Sie deutete zu jedem von ihnen kurz, bevor sie ihre Augen auf Steve richtete.
Gabriel folgte ihrem Blick, nachdem er Sam und Dean kurz angesehen hatte und zog scharf die Luft ein.

“Fuck, Cassie…”

Dean holte einen weiteren Stuhl und Sam einen neuen Kaffee, einen Süßen, bitte! Zucker, Sahne, Sirup, was sie haben!.


Es waren nur wenige Tage gewesen, bis Dr. MacLeod mit Steves Fortschritten zufrieden war, seinem Blutdruck, dem Hirndruck und dem Kreislauf.
Die Medikamente, die Steve im Koma hielten, wurden reduziert, langsam, nach und nach, über mehrere Stunden, Tage.
Sie sollten nicht zu viel erwarten, hieß es, sich bewusst machen, dass ein Aufwachprozess einige Zeit dauern würde, bis die Medikamente nach und nach aus Steves Körper ausschlichen, bis er wieder selbstständig atmen würde, bis er die Augen aufschlug, bis er sie erkannte.

Trotzdem hatte Dean das Gefühl, - und wenn er es sich nur einbildete - dass bereits mehr Leben in Steve zurückgekehrt war, mehr Farbe in seinen winterwellenweißen Wangen, mehr Bewegung in die von seinen Lidern verdeckten Augen.
Gott, er vermisste seine Augen, das ozeantiefe Schimmern, das blitzgewittergrelle Leuchten, er vermisste ihr Stärke, ihren Glanz, er vermisste-
Er vermisste Steve.
Alles in ihm.

Aber es wurde mehr, es wurde besser, Steve ging es besser.

Er schluckte hart, als er den Gedanken immer und immer wieder in seinem Kopf wiederholte, während seine Augen in das immer noch viel zu blasse Gesicht sahen.
Die Hämatome zeichneten sich stark und brutal gegen seine helle Haut ab, aber ihre Ränder wurden leichter, verschwammen vom dunkelm, verletzten Lila zu weichem grün und sanftem gelb, jeden Tag ein bisschen besser, jeden Tag ein bisschen mehr. 

Bess war gerade da gewesen, hatte Werte kontrolliert, Monitore geprüft, Medikamente neu eingestellt und Sam hatte Anna und Gabriel mit in die Kantine genommen, ein bisschen die Beine vertreten, nachdem die Beiden schon fast so lange in diesem Krankenzimmer saßen, wie er und Dean.
Insgeheim wusste Dean, dass Sam die beiden mitgenommen hatte, damit er einen Moment mit Steve haben könnte, damit er sich ihm nähern könnte, sich wieder auf den Stuhl an seinem Bett setzen konnte, seine Hand halten, seine Haut berühren, die dunklen Strähnen aus seiner Stirn streichen- aber er konnte es nicht.

Er saß immer noch auf der Bank auf der anderen Seite des Raumes, die Unterarme auf die Knie gestützt, knete seine Hände und starrte ihn an.

Es war - anders, seit Anna und Gabriel da waren.
Nicht schlecht anders, bestimmt nicht.
Er mochte die beiden, die Art, wie sie miteinander umgingen, wie sie mit Steve umgingen, seine Hand hielten, über ihn sprachen und in Erinnerungen lachten, wie Anna durch Steves Haare fuhr und sich über die ständig unordentlichen Strähnen beschwerte, wie Gabriel Steves Schienbein oder Unterarm streichelte und mit ihm sprach, als würde er Antworten erhalten.
Dean konnte es sehen, die Ähnlichkeiten, die nicht nur durch Blut kamen, die Kraft in den beiden, die Stärke und Sturheit, genau wie bei Steve, die Wärme und Liebe, die sie füreinander hatten, die sie für Steve hatten und - so kam es ihm vor - auch allmählich für Sam, Charlie, Garth, Kevin - ihn.

Sie duldeten nicht nur, dass Sam und er weiterhin im Krankenzimmer blieben, sie wünschten es sich, hatten darum gebeten, dass sie blieben - wenn sie wollten.
Wenn sie wollten.
Als könnte sich Dean auch nur vorstellen jetzt gerade an einem anderen Ort zu sein, als hier.
Hier bei Steve.
Seinem Steve.

Dean schluckte einmal hart und lehnte sich mit einem tiefen Atemzug zurück.
Das war das Problem, oder?
Steve war nicht sein Steve.

Er war es nie gewesen - Du wirst ihn nicht haben. Und er wird dich nicht haben. Niemand wird dich haben, Castiel. Niemand. Außer. Mir.
Dean räusperte sich, als ihn die plötzliche Erinnerung an Alastaris Stimme im Inneren gefrieren ließ und fuhr sich streng über die Augen.
Aber - Alastair hatte nicht Recht gehabt, mit nichts von dem, was er gesagt hatte, gar nichts.
Aber er hatte auch nicht Unrecht.
Steve gehörte nicht zu ihm, er gehörte nicht zu Steve.

Er hatte ihn im Stich gelassen, er hatte ihn alleine gelassen.
Er hatte ihn überfordert und verraten, ihn ausgenutzt, als er seine Hilfe gebraucht hatte - und Steve hatte all das alleine ertragen müssen.

Dean war sich immer noch nicht sicher, ob Steve ihn überhaupt sehen wollen würde, wenn er aufgewacht war.
Ob er, sobald er diese tiefen, blauen Augen das nächste Mal sah, sie jemals wieder sehen würde.
Ob Steve einen Blick auf ihn werfen und ihn weg schicken würde.

Er hätte es verdient.

Also nein, er saß nicht neben Steve an seinem Bett, wo sich Anna und Gabriel mittlerweile abwechselnden, er hielt nicht Steves Hand in seiner, wie Anna es auch immer wieder tat, er strich nicht über die Haut an seinem Unterarm, zwischen Infusion und Verband, wie Gabriel es tat.
Er saß hier, auf der Bank, und starrte ihn an. 

Dean presste die Fingerknöchel seiner knetend gefalteten Hände gegen seine Stirn, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und schüttelte leicht den Kopf.
Wenn er nur wüsste, was er tun-

Hektisches, lautes Piepsen von den Geräten, die wie Wächter um Steves Bett standen, erstickten seine Gedanken im Keim und sein Kopf zuckte augenblicklich hoch.

Steves Puls- stieg?!
“Steve?”

Steve bewegte sich, er bewegte sich und Dean sprang auf die Beine, in einer Trance aus Fassungslosigkeit, Panik und- Es war keine Hoffnung. Es war zu kalt für Hoffnung.

Er zögerte noch einen Moment, erstarrt, erschrocken, Steves Puls laut und aggressiv gespiegelt von dem Herzmonitor, ein verzweifeltes, schwaches Röcheln gegen den Tubus in seinem Hals, Bewegungen in seinen Armen, Beinen, schwer erkämpft, schwach, aber getrieben. Verängstigt.
Verängstigt!

Dean zuckte in Bewegung, hatte in wenigen großen Schritten die Distanz überquert und stand neben Steves Bett, während hinter ihm Bess und Dr. MacLeod in den Raum eilten.
Aus den Augenwinkeln sah er sie einen Moment, nicht hektisch, aber eilig, koordiniert in dem lauten, zuckenden Puls aus dem Gerät, aus Steves Herz.
Einen Moment lang sah er sie, Medikamente prüfen, Maschinen lesen, bis er Steves Augen sah.

Seine offenen Augen, weit, blau, unsehend und panisch.
Er war nicht wach, nicht wirklich, gefangen in einem Alptraum aus Medikamenten und Schlaf und Schmerzen.

Deans Herz hatte Zeit für einen schweren, kalten Schlag durch seine Brust, schmerzhaft und luftraubend, bevor er nach Steves Hand griff, sie zu sich nach oben brachte und einfach hielt, fest gegen das Zittern in den Fingern, warm gegen seine Kälte, haltend und sicher und da.

“Steve”, er beugte sich nach unten, näher, näher, näher, wob seine andere Hand sanft in seine Haare, strich über seinen Nacken, wiegte seinen Kopf zärtlich über seinem Kissen. “Steve, es ist okay, alles okay.”
Sein Ohr passte immer noch so perfekt in die Kuhle zwischen seinem Daumen und seinem Zeigefinger und er strich sanft über seine Wange. “Alles okay, Steve. Ich bin da, okay? Es ist alles okay.”

Steve sah ihn nicht an, nicht wirklich, aber er sah auch nicht weg und Dean lächelte, hielt seine Hand, strich über seine Wange.
“Alles okay.”

Sein Brustkorb hob und senkte sich wieder langsamer, rhythmischer, mit dem Beatmungsgerät, nicht dagegen, er hörte auf, sich zu winden und Dean konnte spüren, wie das bisschen Kraft, das in seiner Hand gestrandet war, wie Wellen bei Ebbe nachließen, zurückgezogen wurde in Dunkelheit, Schlaf und Ruhe.
“Ist okay, Steve, ich bin hier. Wir sind hier. Es ist alles okay.”

Deans Finger strichen weiter sinnlose Muster auf Steves Wange, sanft und zärtlich, und Steve sah ihn immer noch an, sein Kopf kraftlos in die Kuhle geschwemmt, die seine Hand bildete.
Er musste schlucken, aber er hielt das Lächeln aufrecht, warm und sicher, etwas, das Steve mit in seinen Schlaf nehmen konnte.

Seine Augen fielen zu, sein Kopf sackte die letzten, wehrhaften Millimeter widerstandslos weiter gegen seine Hand und Dean zog tief die Luft ein.
Er erlaubte sich, einen Blick nach oben zu werfen, zu Bess und Dr. MacLeod und sah, wie die Ärztin zufrieden nickte.

“Es ist alles in Ordnung, die Medikamente waren flacher eingestellt, als nötig.” Sie schrieb in schwungvollen Linien auf sein Krankenblatt, bevor sie es an Bess weiter reichte. “Er ist ein Kämpfer, das ist ein gutes Zeichen.”
Seine Lippen verzogen sich eisern und hart, aber bevor er etwas darauf erwidern würde, “Gutes Zeichen” am Arsch, blickte er zurück zu Steve.
Der Schlaf hatte ihn wieder, in all seiner bleichen, sanften Weichheit und Dean zwang das Lächeln zurück auf seine Lippen, damit seine Stimme es einfangen konnte: “Dass du ein Kämpfer bist, wissen wir, Steve. Jetzt schlaf, ruh dich aus.”

Dean spürte den rauen Widerstand seiner schwieligen Finger an Steves Haut, als sein Daumen wieder und wieder über seine Wange strich und er wusste-
Er musste ihn los lassen.
Er musste seine Hand zurück ziehen, seine Finger aus den dunklen Haaren, musste seine Hand los lassen und wieder zurück auf seine Bank gehen.
Er musste.
Er müsste.

Gott, er wollte nicht.
Er wollte hier stehen bleiben, genau hier, halb gebeugt über Steve, wollte in sein ruhiges, schlafendes Gesicht sehen, wollte bemerken, wie seine Augen sich unter seinen Lidern bewegten, wollte spüren, wie ganz langsam mehr und mehr Wärme in seine Haut zurück sickerte, wollte sich einbilden, dass er - wenn auch nur ganz leicht - spüren konnte, wie Steve seine Hand ebenfalls drückte.

Aber das konnte er nicht.
Er musste ihn loslassen.
“Schlaf gut, Steve.”

Es war keine bewusste Entscheidung, kein Entschluss, den er gefasst hatte und beinahe war er selbst davon überrascht, mit welcher Selbstverständlichkeit er sich nach unten beugte und einen sanften Kuss auf Steves Stirn drückte.

Er lächelte, als er sich wieder aufrichtete, obwohl er seine Hand unter Steve hervorziehen musste, er lächelte, als seine Lippen kurz, aber sanft seine Fingerspitzen streiften, bevor er Steves Hand behutsam zurück auf das Bett legte.

Ein letztes kurzes Drücken seiner kalten Finger und er drehte sich - zu Anna, Gabriel und Sam im Türrahmen.

Fuck.

“Was ist passiert?”


“Ich hasse diesen Raum!” Gabriel war von seinem Stuhl aufgestanden, lief kleine Kreise im Zimmer und fuhr sich energisch durch die Haare.

Dean schielte von seinem Handy hoch, auf dem er mit seiner Mutter gerade Scrabble spielte, und beobachtete ihn.

Eigentlich hätte Dean erwartet, dass Anna und Gabriel ihn nach dem, was sie gestern beobachten konnten, aus dem Zimmer werfen würden. Aber nachdem Dr. MacLeod erklärt hatte, was - zumindest medizinisch gesehen - passiert war, war- es einfach nicht mehr zur Sprache gekommen.
Er hatte bemerkt, dass Gabriel ihm einen überaus prüfenden Blick zugeworfen hatte und ein leichtes Schmunzeln um Annas Lippen, aber er könnte sich das genauso gut eingebildet haben und wäre dann immer noch nicht schlauer.

Andererseits wollte er auch keine schlafenden Hunde wecken, also hielt er selbst lieber die Klappe.
Wer wusste auch, was sie wirklich gesehen hatten?
Wann sie wirklich ins Zimmer gekommen waren?

Nun, Sam wusste es, sprach mit ihm aber nicht darüber.
Er war nach Hause gefahren, hatte sich mit Eileen getroffen, sie ins Bild gesetzt und war heute in die Kanzlei gefahren, um Steves Fall weiter voranzubringen.

Benny, Garth, Charlie und Kevin schauten in regelmäßigen Abständen vorbei, wobei Dean sich sicher war, dass Garth nicht nur wegen ihnen ins Krankenhaus kam, nicht, wenn er jedes Mal auch etwas für Bess dabei hatte.
Heute morgen, als er für sie Frühstücksburritos und Kaffee gebracht hatte, war es eine Rose gewesen.

Steve machte weiter Fortschritte, je weiter die Medikamente reduziert wurden. Es waren Kleinigkeiten, Bewegungen, ein Zucken in den Muskeln, das schwache Drücken in seiner Hand. Es war wundervoll und voller Erleichterung und zeitgleich unerträglich und zäh.

Er verstand Gabriel, seine Unruhe, das Gefühl wahnsinnig zu werden, wenn man nicht sofort etwas unternehmen könnte, es kratzte genauso in seinem Hinterkopf.
Es war, als müsste jeden Moment etwas passieren, als wäre die sie umgebende Ruhe falsch und trügerisch, als würde jeden Moment etwas aus den Schatten springen.
Es war unnatürlich und nervenaufreibend, ein Gefühl, das an den Knochen nagte und an den Nerven zerrte und sie alle getrieben und unruhig zurückließ.

Dean spürte, wie es in seinen Fingerspitzen vibrierte und unter seiner Haut juckte, auf alles und jeden lauerte, am allermeisten auf Steve; Auf das Rhythmische, fremdgesteuerte Atmen, auf das regelmäßigen Piepsen des Herzmonitors, jede Regung, jede Bewegung, Existenzen reduziert auf einzelne Beobachtungen.

Es machte ihn fast wahnsinnig, genauso wie Gabriel, der mittlerweile stur aus dem Fenster sah.

Anna hatte, woher auch immer sie die Kraft dafür nahm, noch eine Aura der Ruhe um sich, ein Fels in einer Brandung und sie atmete lang aus.
“Gabriel…”

“Nein!” Annas Augen wurden bei der rüden Unterbrechung streng und Gabriel hob entschuldigend die Hände. “Entschuldige. Aber- Komm schon. Das ist schrecklich. So ist Cassie nicht, nicht mal er ist so verklemmt und trocken, dass er sich hier wohlfühlen würde.”

Dean runzelte die Stirn und ließ das Handy sinken, das ohnehin nur noch als Alibi diente.

“Und was möchtest du deshalb unternehmen?” Anna lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und verschränkte mit hochgezogener Augenbraue die Arme vor der Brust.

Gabriel holte tief Luft, während sein Kopf hilflos von rechts nach links schwankte und dann mit den Schultern zuckte.
“Ich weiß es nicht. Irgendwas! Vielleicht - Bilder oder Bücher, dann könntest du ihm wieder vorlesen. Ich meine, er hat gar nichts hier. Nichts zum Anziehen, nicht mal seine Zahnbürste. Wir sollten was besorgen. Damit er-” Gabriel brach ab und fuhr sich wieder durch die Haare. “Damit er sich nicht- Er soll sich wohl fühlen.”

Annas strenge Haltung hatte an Schärfe verloren und sie sah zu Steve.
Vielleicht könnten sie bald den Beatmungsschlauch entfernen. Das wäre ein Zeichen, groß und mächtig und ein wirklicher Fortschritt. Aber soweit waren sie noch nicht, im Moment freuten sie sich über Nuancen an Farbe, die seine Wangen gewannen und seine Hämatome verloren.
Sie seufzte tief.

“Wie willst du das machen? Einfach losgehen und Dinge kaufen, von denen du denkst, sie würden Castiel gefallen?”

“Nein, ich meine, vielleicht!-”
“Ich könnte Jo fragen, ob ihr in die Wohnung könnt.” Die Worte waren aus ihm herausgesprudelt, ohne überhaupt darüber nachzudenken, fast zeitgleich mit Gabriels.
Beide Köpfe zuckten zu ihm und einen Moment herrschte heiße, unerträgliche Stille.

“Jo?” Annas strenge Augenbraue war wieder an ihrem Platz und Dean räusperte sich unwohl und rutschte auf der Bank herum. Gott, sie konnte furchterregend sein!

“Jo, ja. Sie uh- Sie war mit ihrem Partner Rufus die erste am Tat- in der Wohnung. Wenn die Spurensicherung mit der Beweisaufnahme fertig ist, dann kann ich fragen, ob ihr rein könnt, denke ich. Ich meine, ich weiß nicht, ob- ob es klappt. Aber ich könnte… fragen. Ihr seid seine Familie also- uhm.” Es war beinahe anstrengend, seinen Mund zuzuklappen, bevor ihm noch mehr Nonsense entkommen konnte. 
Annas strenger Blick machte ihn fast nervös und, wie so oft, seit er sie kennengelernt hatte, sah er ganz deutlich Steves große Schwester in ihr.

Wieder zog sich ein Moment Stille durch den Raum, bevor Gabriel die Arme entnervt in die Luft riss.

Worauf wartest du?! Ruf sie an!”


“Tolle Kontakte, muss man dir lassen, Dean-O.” Gabriels Stimme zog sich spitzbübisch wie der zuckrige Widerstand in Karamell und Dean verdrehte nur die Augen, als er den Wohnungsschlüssel in seine Hand fallen ließ.

Ja, die Spurensicherung war mit der Wohnung fertig, was nicht zuletzt daran lag, dass sowohl beide Tatwaffen gesichert werden konnten, als auch beide vermeintlichen Täter beziehungsweise Opfer und daran - und das sorgte immer dafür, das Deans Herz kalt krampfte - dass die Aufzeichnung des Telefonats offiziell als Beweismittel zugelassen wurde.
Alastair war so gut wie geliefert. Er mochte die beiden Schüsse in den Bauch überlebt haben, die Steve ihm in eindeutiger Notwehr verpasst hatte, aber er würde - wenn es nach Sam und seinem Team ging - den Rest seines Lebens hinter Gittern verbringen.

Da die Beweislage gesichert war, gab es laut den Ermittlern keinen Grund mehr, Steves Wohnung versiegelt zu lassen.
Also hatte Jo zugestimmt, sie vor der Wohnung zu treffen, hatte das Siegel hochoffiziell entfernt und ihnen den Schlüssel gegeben, genauso wie Steves Handy, das als Beweismittel mitgenommen und geklont worden war.

Gabriel atmete einmal tief durch, bevor er den Schlüssel in das Schloss steckte und aufsperrte.
“Ich war seit über einem Jahr nicht hier. Ich frag mich wa-” Seine Stimme starb auf seinen Lippen, nur ein paar Schritte nach der Tür und Dean folgte ihm mit gerunzelter Stirn.

Fuck.


Dean hatte protestiert, als Anna beschlossen hatte, dass er und Gabriel in die Wohnung fahren würden, damit sie bei Steve bleiben konnte.
Dass es nicht richtig wäre, er kein Recht dazu hätte einfach-
Einfach bei Steve aufzutauchen, einfach in seiner Wohnung zu stehen, seinem Rückz-
Es wäre einfach nicht richtig, nicht ohne Steve.

Er gehörte nicht in diese Wohnung, nicht ohne Steve. Er war kein Teil davon.
Er hatte schon einige Grenzen überschritten, als er das zweite Mal im Laden aufgetaucht war, auch wenn es nur passiert war, weil er krank vor Sorge gewesen war.
Dass er jetzt einfach so, ohne Anmeldung, ohne Steves Wissen in seine Wohnung gehen würde, fühlte sich schwer und merkwürdig an.
Andererseits, und das war es wohl gewesen, was ihn Anna gegenüber hatte einknicken lassen, war er auch ein bisschen neugierig, ein bisschen gespannt, ein bisschen aufgeregt.
Er wollte die Orchidee sehen, von der er wusste, dass sie im Wohnzimmer auf der Fensterbank stand, wollte das Sofa sehen, auf dem Steve und er einige Abende telefonierend verbracht hatten.
Er wollte sehen, wo die Kerzenständer standen, die Steve wegen ihm gekauft hatte.

Es war trotzdem noch falsch ohne Steves Wissen hier zu sein -  und seine Neugierde änderte gar nichts daran - aber er hoffte, dass die Anwesenheit von Steves Bruder es wenigstens etwas in rechte Licht rücken könnte, dass das nicht noch etwas war, auf das Steve wütend sein würde, wenn er erst ganz aufgewacht war.

Denn es kribbelte in ihm, das Gefühl von Aufregung und Neugierde und Verbotenem, wie ein Kind, das sich am Weihnachtsmorgen nach unten stahl, um schon die Geschenke zu sehen.

So falsch und verwirrend und aufregend, dass er darüber eine Tatsache vollkommen vergaß: Das war nicht mehr Steves Wohnung.
Es war ein Tatort.

Nach dem kleinen Eingangsbereich standen sie ungebremst und ungefiltert direkt darin, in den Spuren des Kampfes, der Schmerzen, des Schluchzens und der Schreie.
Ein Tisch am anderen Ende, samt seiner beiden Stühle, war umgeworfen, alle Beine in die Höhe gestreckt, davor auf dem Boden lagen Briefen, Servietten, zwei lange, weiße Stabkerzen und ein eiserner Kerzenständer.
Dean wusste mittlerweile, dass Steve Alastair mit dem anderen Kerzenständer gegen den Kopf geschlagen hatte, nachdem-
Nachdem Alastair ihm den Arm gebrochen hatte.

Dean braucht alle Kraft, bei dem Gedanken, bei dem Echo des Schreis, das durch seinen Kopf und seinen ganzen Körper hallte, nicht zurückzuweichen.

Regale waren abgeräumt, der Couchtisch lag auf der Seite und an der Wand des Tresens zu ihrer rechten waren rostrote, verschmierte Flecken, als wäre etwas - jemand. Steve. Steve. Steve. Steve - dagegen geschlagen worden.

Direkt vor ihnen waren die großen, getrockneten Lachen aus dunklem Blut, das sich in den hellen Teppich gefräst hatte.
Dean konnte es hören, wie bei dem Anblick sein Atem in seiner Kehle gefror, konnte spüren, wie Eis und Gletscher zurück in seine Blutbahn liefen, wie Erinnerungen und Echo in seinem Kopf so laut anschwollen, dass er sein eigenes Herz darüber kaum noch wahrnehmen konnte.

Immer wieder, Knall, [i]Knall, Knall[/i].
“Hast. Du. Vergessen. Wo. Dein. Platz. [i]Ist?!”[/i]

Als Gabriels Augen darauf fielen, stolperte er einen Schritt zurück und stieß gegen Dean, rempelte ihn aus den schmerzhaft verklebten Lungen, weg von seinen eigenen zitternden Händen und von der brennenden Übelkeit, die seine Speiseröhre hinauf ätzte.
Er sah zu Gabriel, zu Steves Bruder, in sein weißes Gesicht, auf seine zitternden Hände und das schwere Schlucken in seinem Hals und etwas in Dean klickte an seinen Platz.

“Gabriel…” Eine Ruhe, die er selbst nicht spürte, lag in seiner Stimme, als er die Hand hob, um sie auf Gabriels Schulter zu legen.

“Die hab ich ihm geschenkt.” Gabriels Stimme rieselte so leise in seine Ohren, Puderzucker auf einem Dessert, dass er ihn beinahe nicht gehört hätte.

“Was?”

Gabriel zog scharf die Luft ein, bückte sich und hob die Waffenkiste auf, die aufgeklappt neben dem getrockneten Blut auf dem Boden lag.
“Ich hab sie ihm geschenkt, als er hier eingezogen ist. Ich weiß noch, dass er sie erst nicht haben wollte. Aber ich fand, er brauchte mehr, um sich in der Großstadt zu verteidigen.” Er lachte fast, halb gefangen zwischen einer Erinnerung um dem Schrecken der Gegenwart. “Anna war so sauer. Cassie hatte frisch die Wohnung gekauft, sie kam mit einer Orchidee an und ich mit der Waffe.”
Gabriels Hände zitterten so sehr um die Kiste, dass man meinen könnte, sie würde ihm aus der Hand fallen.
“Er wollte ihn damit erschießen, oder? Das hat einer der Polizisten zu Sam gesagt, das war in der Aufzeichnung. Alastair wollte ihn damit erschießen.” Gabriel schnaubte eine groteske Mischung aus Verachtung, ungläubigem Lachen und Verzweiflung.

“Du wirst ihn nicht haben. Und er wird dich nicht haben. Niemand wird dich haben, Castiel. Niemand. Außer. Mir.”
PENG!
[i]PENG![/i]

Dean musste hart schlucken, bevor er sprechen konnte.
“Aber das hat er nicht, Gabriel. Es war nicht deine Schuld.”

“Vielleicht nicht, aber sie hat ihm auch nicht geholfen.”
Als Gabriel wieder tief Luft holte, klang es gefährlich feucht und er fuhr sich grob über seine Augenwinkel. Er stellte die Box mit mehr Nachdruck als nötig auf das Sideboard vor ihm und schluckte hörbar.

“Es war nicht deine Schuld.”

Gabriel drehte sich zu ihm um und zuckte hilflos mit den Schultern. “Aber Cassies auch nicht.”

“Nein, es war Alastair’s Schuld. Es war nur Alastair’s Schuld. Mit oder ohne Waffe, du wolltest ihn beschützen.”
Seine Stimme klang deutlich fester und stärker, als er sich fühlte.
Aber es stimmte.
Es war nicht Gabriels Schuld, es war Alastair’s Schuld.
(Und seine, zu einem kleinen Teil war es auch seine Schuld.)

Ein Muskel in Gabriels Wange spannte sich einen Augenblick hart an, bevor er tief Luft holte, als müsste er die Worte und ihre Bedeutung mit ihr bis auf den Grund seines Seins ziehen, sich durch die Haare fuhr und nickte. 
“Okay.”
Deans verkrampfte Muskeln entspannten sich etwas, für jeden Millimeter, den Gabriel mit stoischer Entschlossenheit bedeckte, wurden sie lockerer.

Gabriels Augen glitten durch den Raum, blieben an den Flecken hängen, an den umgeworfenen Möbeln und er schluckte wieder. “Okay, okay, ok-”
Er runzelte erst die Stirn, schüttelte dann den Kopf und Dean folgte verwirrt seinem Blick.

Was-?

“Er kann nicht hier bleiben.”
Deans Kopf zuckte zurück zu Gabriel.
“Du wirst mir helfen, oder? Er braucht eine neue Wohnung. Er kann nicht- Er wird nie wieder einen Fuß hier rein setzen.”

Dean wusste, wusste, dass das nicht okay war, nicht sein Recht und nicht sein Platz etwas zu sagen, Gabriel Recht zu geben oder zu widersprechen.
Es war nicht in Ordnung, jemandem, dem das passiert war, was Steve durchlitten hatte, noch mehr Entscheidungen und Freiheiten wegzunehmen, ihn noch mehr einzuengen und zu leiten, zu steuern, ohne ihn zu fragen, ohne seine Meinung einzuholen.
Es war nicht hilfreich, von einer fremdgesteuerten Umgebung in eine andere zu stolpern.

Aber zeitgleich konnte er das Blut aus dem Teppich fast riechen, konnte das Echo von Steves Schreien immer noch hören, konnte seine eigenen Hände kaum davon abhalten, zu zittern.

Dean konnte spüren, wie alles in ihm schrie, brüllte, dass Steve nie, nie, nie wieder hierher kommen müsste, wenn er nicht wollte.
Dass Dean alles dafür tun würde, und das zu verhindern.

Er nickte.
“Ich kenn da jemanden, ich ruf ihn später an.”


“Hmpf.”

Dean, der gerade Steves Kleiderschrank sondierte - wer hängte denn bitte seine Pullover auf? - zog eine Augenbraue hoch, drehte sich aber nicht zu Gabriel um.
“Was?”

Gabriel stand hinter ihm im Schlafzimmer, er wusste nicht genau, was er suchte, aber offensichtlich hatte er es nicht gefunden.

Sie hatten sich, nachdem sich beide wieder gefangen hatten, erstmal einen groben Überblick verschafft.

Alastair's Sachen waren bereits zusammengepackt worden, fein säuberlich in Kartonagen neben der Couch, vermutlich von Steve, bevor er ihm eröffnet hatte, dass er verschwinden sollte und die ganze Tragödie ihren Lauf genommen hatte.
Zumindest hatte Gabriel an alles, was es sonst noch in der Wohnung gab, wenigstens irgendwie das Label Steve hängen können, oder - in seinem Fall - Cassie.

Der Kühlschrank war halbvoll, das Wohnzimmer ein einziges, schreckliches Chaos und der Rest penibel sauber.
Es stimmte übrigens tatsächlich, Steve hatte keinen Fernseher, auch wenn Dean es immer noch nicht richtig glauben konnte. Er hatte ein Tablet, dessen Akku leer war, einen nicht passwortgeschützten Laptop und eine irrationale Anzahl an Büchern, aber keinen verdammten Fernseher.
Fast ein Frevel, da waren er und Gabriel sich einig.

Gabriel hatte Steves Handy aus dem Beutel, in dem Jo es ihnen gegeben hatte, befreit, es wieder zusammengebaut und zum Aufladen ins Wohnzimmer gelegt, bevor er ins Badezimmer gegangen war, um Steves Sachen zu holen.
Dean hatte währenddessen den Schrank unter die Lupe genommen in der Hoffnung, gemütliche Pullover, Sweatshirts oder einen Pyjama zu finden.

Zugegeben besaß Steve davon nicht gerade viel, dafür aber viele Hemden.
Dean war immer tiefer in den Schrank getaucht, in der Hoffnung, weiter hinten noch andere Kleidungsstücke zu finden, außer gebügelte Hemden, Jacketts, einige Westen aus dem Laden und Pullover, die vornehm aber ungemütlich aussahen.

Ehrlich gesagt war er sich nicht sicher, was zum Teufel Gabriel eigentlich in der Zwischenzeit tat - und er hatte keine Antwort auf seine Frage bekommen.

Dean tauchte aus dem Schrank wieder auf und blickte hinter sich, wo Gabriel gerade die unterste Schublade einer Kommode aufzog, darin herumwühlte und dabei ein paar zusammengerollte Paar Socken auf den Boden beförderte, und dann wieder zuschob.
“Was suchst du?!”

Gabriel stand auf und blickte sich fast geistesabwesend im Schlafzimmer um, bevor seine Augen Dean wiederfanden.
“Wir sind nicht da.”

“Was?!”
Er hatte die scharfen Wendungen, die Gabriels Verstand manchmal urplötzlich machte, noch nicht ganz durchschaut.

“Wir sind nicht hier. Ich meine- Bilder von uns. Als Cassie damals hier einzogen ist-” Er klang irritiert, fast enttäuscht, eine zerborstene Karamelskulptur über schmelzendem Eis, während er weiter durch den Raum sah. “Er hatte so viele Bilder von uns. Ich meine, wir alle haben Bilder von einander. Das hat man doch, oder? Bilder von-”
Dean musste das von der Familie, das in Gabriels Hals feststeckte, nicht hören, um es aus seinen zusammengepressten Mundwinkeln lesen zu können. Er ließ den für ein Krankenhaus viel zu schicken Pullover los und blickte sich ebenfalls im Raum um.

Die einzigen Fotos, die in Steves Wohnung standen, waren Bilder von Alastair und Steve, wahlweise alleine oder zusammen und als Dean einen näheren Blick auf einige Bilderrahmen geworfen hatte, die im Wohnzimmer auf einer niedrigen Kommode gestapelt waren, konnte er sie fast chronologisch ordnen, nur anhand dessen, wie das Licht in Steves Augen immer dunkler und sein Lächeln immer kleiner geworden war.

Wenn nicht mit Bilderrahmen, waren die meisten Oberflächen mit geschmackvollen Objekten geschmückt, Topfpflanzen, Kerzenständer und kleinen Kunstobjekten.
Keine Bilder von Gabriel oder Anna.

Gabriel setzte sich mit einem schweren Seufzen auf das Bett und rieb sich mit beiden Händen die Schläfe.
“Ich dachte nur- Ich dachte, ich könnte ihm eines oder zwei mitbringen. Damit der Raum ein bisschen- freundlicher wird.” Er zog scharf die Luft ein und einen winzigen Moment dachte Dean, es klang beinahe feucht. “Andererseits, wir haben ihn im Stich gelassen.”

“Gabriel…”

“Nein! Ich meine, es ist so. Wir haben ihn alleine gelassen. Ich hätte die Fotos auch weggeräumt.”

“Vermutlich war es Alastair.”
Gabriel zog die Stirn in Falten, bevor er einen fragenden Blick zu Dean warf.
Er räusperte sich, zuckte unstet mit den Schultern und drehte sich wieder zum Schrank.
“Als wir noch bei meinem Dad gelebt haben, Sammy und ich, hatte ich nur ein einziges Foto von meiner Mum. Und das hatte ich nur, weil ich es vor ihm versteckt habe. Vermutlich wollte Alastair euch nicht sehen, also hat er Steve Druck gemacht, sie wegzuräumen.”
Es krampfte in seinem Inneren, seinem Herz, seinen Lungen, in seinem Blut bei der bloßen Vorstellung, wie Alastair Steve dazu gedrängt hatte, wie er ihn manipuliert und verletzt hatte, bis Steve eingeknickt war und die Bilder seiner Geschwister entfernt hatte, bis das letzte, sichtbare Stück Halt und Liebe in Steves Leben in irgendeiner Schublade oder einem Karton verschwunden war.

Er hörte, wie Gabriels Schritte über den Teppich näher kamen, sah aus den Augenwinkeln, wie er sich in den Türrahmen des Kleiderschranks lehnte, die Arme verschränkt und auf der Unterlippe kaute.

“Glaubst du, er hat sie weggeworfen?”

Dean versuchte, seine Hände beschäftigt zu halten, nützlich zu sein, während Steves Schrecken und Terror langsam in Gabriels Realität sickerten und er stieß die Luft in einem unsicheren, gepressten Murren aus, bevor er Gabriel kurz ansah.
“Nicht, wenn er es verhindern konnte.”
Gabriel musterte ihn, fixierte ihn einen Moment nachdenklich, ehe er tief Luft holte und nickte, eine seidendünne Akzeptanz, die sich auf den Moment konzentrierte, größere Probleme für spätere Augenblicke sparte.
Gabriel konnte jetzt nichts weiter tun, als seinem Bruder so zu helfen, wie es seine Möglichkeiten zuließen.
Dean erwiderte das Nicken und schob einige Kleiderbügel nach vorne, wo Gabriel stand. “Komm, hilf mir lieber, was richtiges zum Anziehen zu finden.”

Gabriel blickte in den Schrank und verzog entsetzt den Mund.
Dean lachte leise.


“Ist das ein Rucksack, da oben?”

Sie hatten sehr weit hinten im Schrank, wo sie sich bereits in einen schmalen Gang zwängen mussten, tatsächlich ein paar weiche Sweatshirts, Sweatpants, T-Shirts und Pyjamas gefunden, eingepackt in einen Kleidersack, und hatten ihre Ausbeute auf dem Bett weiter sortiert.
Dean faltete gerade, was mit ins Krankenhaus sollte, in kleine, praktische Rollen, während Gabriel nach einem Koffer, einer Reisetasche oder einem Rucksack suchte.

Dean legte die Rolle aus rotem T-Shirt auf das Bett und kam ebenfalls zum Kleiderschrank.
“Ja, glaube schon. Warte, lass mich.”
Gabriel trat mit ausladender Geste beiseite und Dean schob sich nach ganz hinten in den schmalen Kleiderschrankgang und streckte sich, um den potentiellen Rucksack aus dem obersten Regal zu angeln.
Er bekam ihn an einer vorderen Tasche zu fassen und zog experimentell dran, aber - er war schwer.
“Ich glaube, da ist was drin.”

Der Regalboden war hoch, so hoch, dass sogar er sich auf die Zehenspitzen stellen musste, um den Rucksack zu greifen zu kriegen, und er streckte sich weiter, die Zunge angestrengt zwischen die Lippen geschoben, rüttelte und zog, so langsam und vorsichtig wie mit einer Hand möglich, bis er seinem Zerren Zentimeter um Zentimeter nachgab:
Der Rucksack ruckte näher an die Kante, etwas in dem Rucksack darüber hinaus und Dean konnte gerade noch verhindern, dass das schwere Ding ihm direkt ins Gesicht knallte, indem er beide Hände hoch riss und ihn abfing.
Trotzdem peitschten ihn die Schnallen der Rückengurte gegen die Nase und sein Ellbogen stieß mit einem lauten Knall gegen die Wand. 
“Verflucht nochmal, was hat er da drin?!”

“Sehr beeindruckend.” Gabriel klatschte langsam und Dean verdrehte die Augen.

“Ach, halt die Klappe!”
Gabriel ignorierte ihn und streckte bereits die Hände nach dem Rucksack aus, aber Dean hielt ihn weiterhin über seinen Kopf, als er sich an ihm vorbei und aus dem Schrank heraus drückte.
Wenn er schon derjenige war, der von dem Teil beinah erschlagen wurde, dann wollte er auch wissen, was da drin war.

Dean setzte den - beeindruckend uneingestaubten - Rucksack mit Nachdruck auf dem Bett ab und zog den Reißverschluss auf. Er konnte Gabriel genervt hinter ihm seufzen hören und das Rascheln von Kleiderbügeln, ignorierte es aber gekonnt, als er in das Innere spähte.
Waren das-?

Er griff hinein, zog behutsam einen der Bilderrahmen heraus und betrachtete ihn.

Das Bild zeigte Steve, Gabriel und Anna. Die Aufnahme musste bestimmt fünfzehn Jahre alt sein: Sie standen, Arm in Arm, vor einem Karussell, scheinbar auf einem Vergnügungspark. Gabriel hatte eine große Portion blaue Zuckerwatte in der Hand und Anna einen Teddybär.
Steve war um so vieles jünger, sein Lachen war breiter und strahlender, als Dean es bis jetzt gesehen hatte, seine Augen leuchteten fröhlich auch wenn Dean sich sicher war, dass das Foto dem wirklichen Blau, das seine Augen gehabt haben mussten, nicht gerecht wurde, sein Arm um Annas Schulter geschlungen und die freie Hand hielt er winkend zum Fotografen.

Dean lachte schnaubend, legte das Bild neben den Rucksack auf das Bett und zog ein weiteres hervor:
Das Bild war jünger.
Steve und Gabriel auf dem grünen Sessel aus Annas Wohnung, der noch in Folie gehüllt war, halb ineinander verknotet, vermutlich in einem Kampf, wer in dem Sessel sitzen durfte. Ihre Haare waren zerzaust, die Kleidung dreckig und sichtlich durchgeschwitzt. Anna hatte das Foto gemacht, man sah sie in einem Spiegel, der neben dem Sessel an der Wand lehnte, die roten Haare in einen unordentlichen Dutt hochgesteckt, der aus einem Kopftuch hervor schaute.

“Hey, Gabriel”, er legte das Bild wieder beiseite und zog das nächste hervor. “Ich hab euch gefunden.”


Dean zog den Reißverschluss des Rucksacks zu und blickte sich nochmal im Schlafzimmer um.
Sie hatten alle Bilder ausgepackt (und Dean hatte diskret die Kleidung eingepackt und nicht bemerkt, wie Gabriel an seinen Augenwinkeln gewischt hatte, als er die Fotos durchgesehen hatte) und stattdessen die Sachen für Steves Krankenhausaufenthalt eingepackt.
Jetzt befanden sich darin Krankenhaus taugliche Kleidung, Zahnbürste, Zahnpasta, Bürste und Rasierer, das aufgeladene Tablet und eine Auswahl der Bilderrahmen.

Seine Augen glitten suchend über die Oberflächen im Schlafzimmer, den offenen Schrank, die offen stehenden Schubladen und die Kleidungsstücke auf dem Bett.
Er hoffte, sie würden nichts vergessen.
Einerseits wollte er nicht, dass Steve etwas fehlte, wenn er aufwachte und andererseits- wollte er ehrlich gesagt nicht nochmal her kommen.
Auf jeden Fall nicht ohne Steve.

Es hatte etwas gedauert, bis ihm klar geworden waren, dass nicht nur die Erinnerungen und das Echo von Steves Leiden und die Blutlachen auf dem Fußboden dafür sorgten, dass sein Blut sich eine Spur zu kalt anfühlte oder er eine unangenehme, raue Übelkeit in der Kehle hatte.
Es war die Wohnung, alles, was sie aussagte, wie sie sich anfühlte.
Auch ohne Alastair’s Sachen fühlte sie sich nicht an wie- wie Steve.

Vielleicht hatte er auch zu gesteigerte Erwartungen gehabt, aber er konnte kaum etwas in der Wohnung ansehen, ohne dass das Gefühl von Alastair’s Schatten über seine Schultern lief.
Erst hatte er vermutet, es lag an ihm, dass er Steve einfach nicht gut genug kannte, weil er ihn nicht kannte, aber dann hatte er Gabriels Ausdruck gesehen, wenn er lange in ein Regal gestarrt hatte, bevor er sich mit angespanntem Kiefermuskel abwandte.

Dean räusperte sich aus seinem Gedankengang, zog nochmal an dem Reißverschluss und schulterte den Rucksack.
Sie hatten bestimmt nich- Bücher.
Anna hatte sie gebeten, ein paar von Steves Büchern mitzubringen, damit sie ihm etwas vorlesen konnte, genau.

Vielleicht hatte Gabriel schon eine Auswahl getroffen.
Er war, nachdem er die Bilder, die mit ins Krankenhaus durften, ausgesucht hatte, ins Wohnzimmer verschwunden und seither hatte er nichts mehr von ihm gehört; Außer der völlig unvermittelten Frage, wann Dean Geburtstag hatte.

Dean schob die Schubladen zu und schloss die Schranktüren, bevor er ebenfalls ins Wohnzimmer ging.

Gabriel hatte den Blutfleck auf dem Teppich mit einem großen Handtuch aus dem Wäschekorb im Badezimmer verdeckt und saß mit gerunzelter Stirn tief über Steves Handy gebeugt auf der Armlehne des Sofas.

Dean musterte ihn kurz fragend im Vorbeigehen, bekam aber keine Reaktion, also stellte er den Rucksack vorsichtig auf dem Tresen ab, fuhr sich durch die kurzen Haare und blickte sich in der Wohnung um, ob sie sonst noch etwas vergessen hatten.
Sie hatten die umgeworfenen Möbel wieder aufgestellt, kontrolliert, ob einer der Briefe, die verstreut auf dem Boden lagen, von besonderer Dringlichkeit wäre und die umgeworfenen Sachen aus den Regalen notdürftig zusammen gesammelt und auf den Tisch gelegt.

“Ich glaube, wir haben alles, außer die Bücher. Welche sollen wir mitnehmen? “

Dean sah zu Gabriel, aber er brütete weiter über Steves Handy und Dean runzelte die Stirn, sagte aber nichts dazu.
Wer wusste schon, was Gabriel darin gefunden hatte, ob es Fotos waren oder E-Mails, die ihn beschäftigten oder ob er Probleme damit hatte, das Handy wieder in Gang zu kriegen.
Damit könnte ihnen spätestens Charlie weiterhelfen.


Seine Augen glitten über die aneinander gedrängten Buchrücken, dicht an dicht an dicht, so voll gestopft, dass es fast schwierig war, einzelne Bücher rauszuziehen.
Wow.
Ein leichtes Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus.
Er konnte Steve geradezu vor sich sehen, in einer Decke auf der Couch, einen Kaffee in der einen Hand und ein Buch in der anderen Hand, entspannt und glücklich, keine wunden Stellen in seinem Gesicht, keine dunklen Ringe unter seinen Augen, keine weiß Haut.
Es war eine schöne Vorstellung.

Dean räusperte sich, als ihm klar wurde, dass er ins Leere starrte und zog mit Nachdruck ein eingeklemmtes Buch aus dem Regal, dessen Rücken schon deutlich abgegriffen wirkte.
Offensichtlich musste Steves es öfter gelesen hab-

“Sag mal, Dean, eine Frage.”

Er drehte sich zu Gabriel um, der sich aus der gebeugten Haltung über Steves Handy aufrichtete, um ihm das Display entgegen zu halten.
Dean runzelte verwirrt die Stirn, bevor er auf dem Display die bekannten Umrisse von Textnachrichtsblasen erkannte.
Er war nah genug dran, um zu sehen, dass der Kontakt, dessen Chat offen war, unter D. abgespeichert war.

Fuck.

“Wofür musstest du dich entschuldigen?”

Fuck.

Dean konnte geradezu spüren, wie die Farbe aus seinem Gesicht wich, kalt und klamm, bis auf seine Wangen, die unangenehm heiß brannten.
Wörter, Erklärungen und pochender Herzschlag sammelten sich in seinem Kopf, drückten auf seine Zunge, unsinnig, unsortiert und dabei überzulaufen.
Im selben Moment strömten die Erinnerungen in seine Blutbahn, das heiße Gefühl von Steves Meersalzküssen auf seinen Lippen, seine Hände in seinen Haaren, der Geruch von Sommerregen und Sturmwolken, Steves rasendes Herz an seiner Brust.
Dean musste sich anstrengen seinen Mund zu schließen und er schluckte schwer gegen die Wortfragmente und hektischen Erklärungsversuche, die sich dicht gedrängt an die Meersalzkusserinnerung auf seiner Zungenspitze sammelten.

Er räusperte sich, riss den Blick von dem Handy los und sah zu Gabriel.
Er hatte die Augenbraue nach oben gezogen und musterte Dean, jeden Millimeter seiner Mimik, jede noch so kleine Regung, jede Bewegung und Dean fühlte sich fast ertappt, als er sich mit der Hand durch die kurzen Haare fuhr.

Er hatte ja gewusst, dass dieser Moment kommen würde, dass er sich nicht unbegrenzt dahinter verstecken könnte, dass er nur ein Freund von Steve wäre.
Gott, er wünschte, er wäre es.
Er wünschte, er hätte sich zusammenreißen können, damals in der Mall, hätte sich Steve nicht aufgedrängt, ihn nicht ausgenutzt und alleine gelassen, als er ihn am meisten gebraucht hatte.
Er wünschte, er könnte voller Überzeugung sagen, er wäre nach wie vor Steves Freund, weil er sich sicher sein konnte, dass Steve es genauso sah.
Aber jetzt, hier, seit dem Anruf, der alles verändert hatte, seit dem Kuss, der alles verändert hatte, war er sich darüber nicht mehr sicher.
Er war Steves Freund gewesen und dann hatte er-

Er hatte gedacht,-
Nein, er hatte gehofft, dass er länger bei Steve hätte bleiben können.
Dass er diese Frage, diese Spannung, erst konfrontieren müsste, wenn Steve wach war und ihn aus dem Zimmer werfen würde, weil alles in Allem er daran Schuld war.
Er war Schuld daran, Steve nicht früher, nicht überzeugender, nicht mehr gewarnt zu haben, er war Schuld daran, dass sich Steve bei ihm nicht mehr sicher gefühlt hatte, weil er sich ihm aufgedrängt hatte, und Steve deshalb das Gefühl gehabt hatte, sich Alastair alleine in den Weg stellen zu müssen.
Er war Schuld daran, was Alastair ihm angetan hatte, weil er ein Teil davon geworden war, weil er Alastair direkt in die Karten gespielt hatte.

Es wäre nur logisch, es war nur logisch, dass Steve ihn dann nicht mehr sehen wollte.
Aber- Aber so lange-
Bis Steve ihn rauswarf, wollte Dean bei ihm sein, ihn so weit wie möglich unterstützen, für ihn da sein - und wenn er nur auf der anderen Seite des Raumes auf einer Bank saß.

Aber jetzt, wo Gabriel die Nachrichten ausgegraben hatte, war das wohl vorbei.
Die Nachrichten.

Dean runzelte einen Moment die Stirn, bevor die Antwort noch vor der Frage in seinen Kopf fiel.
“Er hat meinen Geburtstag als PIN verwendet?”

Gabriel zog in einer bestätigend besserwisserischen Art beide Augenbrauen hoch und Dean schnaubte kurz, halb amüsiert lachend, halb verwundert, ehe er mehrfach nickte.

“Also”, Gabriel wackelte mit dem Handy. “Wofür?”

Dean konnte nicht verhindern, dass er Gabriels Blick auswich, dass er lieber auf das Buch in seiner Hand sah, ohne das Cover überhaupt wahrzunehmen, dass er sich erst sammeln musste, die Wörter sortieren musste, bevor er sich streng räusperte.

“Ich habe ihn geküsst.”
Die Worte ließen seinen Mund trocken werden, rau und verzweifelt, während er spüren konnte, wie sein Herzschlag sich allein bei dem Gedanken daran beschleunigte.
Er war ihm so nah gewesen, hatte seinen Atem auf der Haut gespürt, seine Hände in seinen Haaren, Meersalzküsse auf seinen Lippen, das Kribbeln tosender Wellen auf seiner Haut.
Es hatte ihn nach unten gezogen, tief und weit und tiefer und weiter.

Egal wie sehr er wusste, wie schlecht, wie falsch der Kuss gewesen war, er konnte nicht aufhören darüber nachzudenken, sich daran zurück zu erinnern und das elektrische, sehnende Vibrieren in seinen Muskeln zu spüren.

Er vermisste Steve. Er vermisste alles an ihm, seine Augen, seine Stimme, seine Nachrichten, sein kleines, privates Lächeln und - Gott - er vermisste diesen Kuss.

Dean musste sich nochmal räuspern, strenger diesmal, rauer, bevor er hart schluckte.
“Ich habe ihn geküsst und dann ist er gegangen.”

Gabriels Augenbraue war in die Höhe geschossen und er sah ihn mit gerunzelter Stirn forschend an, als wäre er ein Insekt, das man identifizieren musste, ob es gefahrlos zerschlagen werden konnte, oder ob es bereits größeren Schaden angerichtet hatte.
“Das war’s? Du hast ihn geküsst und dann ist er gegangen. Sonst ist nichts passiert? Er hat das einfach- über sich ergehen lassen und ist dann abgehauen?”

Dean benetzte die Lippen mit seiner viel zu trockenen Zunge.
Er erinnerte sich daran, an jedes Detail des Kusses, wie Steve erst an seinem Handgelenk gezogen hatten, atemlos und mit Augen dunkel und blau wie das Meer in der Abenddämmerung, wie er förmlich hatte sehen können, wie Steves Gedanken in seinem Kopf umher gerast waren, wie er seine Hand durch Deans Haare hatte gleiten lassen - wie er ihn wieder zu sich gezogen hatte, in einen weiteren Kuss, tief und leidenschaftlich, energisch und geradezu verzweifelt.

“Dean?”

Dean holte einmal tief Luft, bevor er fast hilflos mit den Schultern zuckte.
“Er hat mich zurück geküsst. Also- Ich habe ihn geküsst, dann hat er mich geküsst.” Bildete er sich etwas darauf ein? Im ersten Moment hatte er das, ja. Aber jetzt? Mittlerweile war ihm klar, dass das vermutlich mehr ein Reflex gewesen war, ein Klammern und Festhalten an einen Funken Zärtlichkeit, an Zuneigung, nach der sich Steve so sehr gesehnt hatte, aber die Alastair ihm verwehrt hatte.
Immerhin, an diesem Tag hatte er Steve so angegangen, dass er ohne Schuhe und ohne Jacke aus dem Haus gestürmt war.
Natürlich hatte er sich in den wackligen Komfort von Deans Avancen gestürzt.
Wer hätte das nicht?

Das war auch nicht das, was zählte.
Was zählte war, wie Steve Dean von sich gestoßen hatte.
Wie er ihn schockiert angesehen hatte, sprachlos und entsetzt.
Wie er sich umgedreht hatte.
Wie er in der Menge verschwunden war.

Deans Hals kratze, rau und trocken von der Erinnerung an das bleierne Gefühl in seinem Magen.
“Und dann hat er mich weggestoßen und ist davongelaufen."

Gabriels Stirn war nach wie vor in tiefe Falten gezogen und Dean wertete das als Aufforderung, weiter zu sprechen.
“Am nächsten Tag wollte er Alastair verlassen, ganz alleine, weil er niemanden mehr hatte, den er kontaktieren konnte.” Er hörte und spürte, wie seine Stimme an dem Sandpapier in seinem Hals kratze, dass die Erinnerung eng um seine Stimmbänder zog.
Sein Atem war eine Spur zu hektisch, eine Spur zu nachdrücklich, eine winzige Spur feucht und er konnte Gabriel nicht mehr ansehen.
“Ich hab ihn geküsst und dann war er auf einmal ganz alleine. Ich hätte nicht- Ich hätte mich ihm nicht-”
Die Wörter wollten nicht aus seinem Mund, klebten an seinem Gaumen, als würden sie sich mit Widerhaken festkrallen.
“Dafür wollte ich mich entschuldigen. Ich hab ihn allein- Ich hab dafür gesorgt, dass er alleine war, als er Alastair verlassen wollte.”

Dean knete seine Lippen aufeinander, fest und fast schmerzhaft, bis er die Courage erarbeitet hatte, Gabriel wieder anzusehen.
Er fragte sich, ob heute der Tag war, an dem Steves Bruder ihm eine verpassen würde.

“Hmm.” Gabriels Brummen war tief und voll, Kakaopulver auf einem Schokoladendessert. “Verstehe.”
Er steckte das Handy weg und stand von der Armlehne auf, als wäre nichts geschehen. “Nimm das von Cummings mit. Das ist eines von Cassies Lieblingsbüchern.”

Dean schüttelte verdutzt den Kopf. “Was?”

“Das Buch, zu deiner Rechten, E. E. Cummings, das nehmen wir auf jeden Fall mit.”

Seine Augen folgten Steves Bruder, der so vollkommen selbstverständlich um die Couch herum ging und gezielt Bücher aus dem Regal zog, als wäre nichts gewesen, als hätte er nicht gerade-

“Du willst nichts dazu sagen?”

Gabriel blickte von dem Klappentext, den er gerade überflog, zu ihm hoch, eine Augenbraue streng nach oben gezogen und ein fast amüsiertes Schmunzeln im Mundwinkel.
“Dean-o, es ist nicht meine Entscheidung, wen Cassie küsst oder nicht - und wenn es das wäre, hätte er die Geschichte mit Alastair schon vor langer Zeit begraben. Du hast ihn geküsst, er hat dich nicht mit einem gezielten Schlag auf die Matte geschickt. Mehr muss ich nicht wissen.”

“Er- Was?”

“Nimmst du jetzt endlich Cummings aus dem Regal?”


Zwei Tage später konnte Steve wieder alleine atmen.


Es war- anstrengend.

Dean holte einmal tief und betont Luft, während er vor der Kaffeemaschine im Krankenhausflur stand und darauf wartete, dass der Automat mit seiner Bestellung fertig wäre.

Steve war die letzten Tag in ständigem Delirium gewesen.
Nachdem er vor ein paar Tagen selbstständig hatte atmen können, war das wie ein Zeichen gewesen.
Groß und wichtig, voller Hoffnung und Erwartung und Seelenfrieden, so lange, bis ihnen klar wurde, wie lange die Medikamente noch brauchen würden, bis sie seinen Blutkreislauf, seine Gedanken und seine Wahrnehmung verlassen hatten.

Manchmal wachte er auf seinem leichten Schlaf fast panisch auf, mit geschwächten Muskeln hektisch greifend, bis Anna oder Gabriel oder Dean ihn an die Hand nahmen und beruhigenden Nonsense in sein Ohr flüsterten.
Manchmal wachte er lächelnd auf, sah seine Geschwister an und murmelte von lang vergangenen Zeiten, als wäre es gerade passiert.
Manchmal wachte er auf und erkannte keinen von ihnen, bevor er wieder einschlief.

Dr. McLeod war deshalb nicht beunruhigt - und das war das einzige, das Anna, Gabriel und ihn beruhigte.

Es würde besser werden, das hatte sie ihnen versichert.
Steve hatte es schon so weit geschafft, aus der langanhaltenden Narkose in selbständiges Atmen, Bewegungen, Reaktionen - jetzt musste sich sein Kopf nur wieder neu sortieren, musste nur wieder Fuß fassen in der Realität.

Dann wäre alles wieder in Ordnung.

Zumindest hoffte Dean das.

Er kaute leicht auf seiner Unterlippe und blickte rüber zu Gabriel, der gerade über den Tresen gelehnt mit Bess sprach, einen Krankenhaus-Lutscher für Kinder in der Hand, und offensichtlich versuchte, noch mehr davon zu ergattern.
Anna saß bei Steve am Bett, Charlie und Garth waren gerade mit Eileen und Gilda im Laden und Sam war in der Kanzlei.

Gabriel hatte weder die Textnachrichten, noch die Tatsache, dass Dean seinen Bruder geküsst hatte, wieder erwähnt. Zwar war sich Dean sicher, dass er es Anna erzählt hatte, aber auch sie schien davon nicht beunruhigt oder besorgt zu sein, oder gar wütend.
Sie hatte viel mehr etwas Allwissendes an sich, das sich nahtlos mit ihrer Aura als Große Schwester verband.

Trotzdem war es ein merkwürdiges Gefühl, weiterhin hier zu sein, als wäre es geborgte Zeit, als könnte - und würde - alles jeden Moment in sich zusammenbrechen.

Er wollte nicht, dass es zusammenbrach, nichts und niemand.
Er wollte, er wünschte sich so sehr, dass Steve die Augen aufschlug, dass er klar war und es ihm - den Umständen entsprechend - gut ging, dass er Anna und Gabriel sehen und sich freuen würde.
Dass er ihn ansehen und- und vielleicht lächeln würde.

Er wollte nicht, dass etwas zerbrach, am allerwenigstens Steve.
Er wollte ihn halten, weigen, trösten, küssen, um sicherzustellen, dass das nicht passierte.

Aber was er getan hatte schwebte über seinen Kopf wie ein Damokles-Schwert und jedes Mal, wenn Steve aufwachte und ein winzig kleines bisschen klarer war, als das Mal davor, sackte es ein Stück nach unten.

Vielleicht könnte Steve ihm verzeihen, vielleicht könnten sie wieder von vorne anfangen, vor dem Kuss neu laden und so weitermachen, wie bisher, sobald Steve etwas Ruhe und Erholung genossen hatte, sobald Alastair hinter Schloss und Riegel wäre und er niemals wieder Angst haben müsste.
Vielleicht könnten sie sogar… Nur vielleicht, wenn-

“Jungs!” Annas Blumenwiesenstimme rauschte durch den Flur und gegen seine Ohren wie eine plötzliche Böe durch Blütenblätter und er erstarrte, genau wie Gabriel, einen Moment, ein tiefes, entsetztes Ziehen in den Magengruben aus lang mit sich getragener Angst, bevor die Leichtigkeit in Annas Tonfall sie ganz erreichen konnte.

Alles war in Ordnung, alles war gut.
Nein, besser.

Gabriel stürzte vor ihm die kurze Distanz zwischen Bess’ Tresen und Steves Zimmer entlang und in den Raum.
Dean folgte ihm, dicht auf den Fersen, und blieb im Türrahmen stehen.

Steve war wach.

Kein Delirium, kein wirres, unkonzentriertes Traumflüstern, keine Angst oder Panik.

Er war wach - und er weinte.
Seine Arme waren eng um Anna geschlungen und sein Kopf in ihre Halsbeuge gedrückt.
Dean konnte das Schulzen bis hier hören, atemlos, schlafrau und feucht.

Gabriel kam zu ihnen, legte Steve die Hand auf den Unterarm, den sie alle so oft berührt und gestreichelt hatten, als er noch unter der Narkose gestanden hatte, und Steves Kopf zuckte nach oben.
Große, dicke Tränen klebten an seinen Wimpern, liefen über seine Wangen und er angelte mit seinem ganzen, geschienten Arm nach Gabriels Körper, um ihn ebenfalls an sich zu pressen.

Dean konnte sehen, wie Anna eilig die Tränen von ihren Wangen wischte, die fast sofort von neuen ersetzt wurden, konnte sehen, wie Gabriels Haut vom Hals aufwärts rot wurde, konnte das Zittern seiner Tränen in seinen Schultern sehen.
Steve sackte gegen seine Geschwister, weinend und schluchzend mit bebenden Schultern und halblauten Wörtern, die nur die drei hören konnten.

Steve war wach.

Steve war wach.

Er war bei seiner Familie, er war wach, es ging ihm gut.

Es ging ihm gut.

Eine Flut von Emotionen brandete von Innen gegen Dean, sein Herz, seine Lungen, seinen Hals, Mund, Lippen, es erstickte ihn beinah in taubem Freudentaumel.
Steve war wach, wach, wach, wach, wach, und seine Hände brannten mit dem Drang, ihn in seine Arme zu schließen, ihn zu halten und zu wiegen, die Tränen von seinen Wangen zu wischen und zu küssen, seine Lippen auf seine zu legen, wenn er es zulassen würde, seinen Atem, seinen eigenen, selbstständigen Atem, an seiner Haut zu spüren, kochendes Meersalz, der Geruch von Sturmwolken und Sommerregen und-

Dean konnte es sehen, konnte die Bewegung erahnen, bevor sie ganz vollendet war, gleich würde Steve den Kopf heben und ihn-

Er wich zurück und zur Seite, vollkommen ohne Gedanken, ohne Willen, ein reiner Reflex.
Er- konnte nicht.

Er konnte jetzt nicht in diesem Zimmer sein, bei Steve, bei Steve und seiner Familie.
Er musste-

Er konnte nicht.

Dean zwängte ein schmerzhaftes Schlucken seinen Hals hinunter, an seinem rasenden Herzen vorbei, weg von den freudig atemlosen Lungen, von dem pulsierenden Blut in seinen Adern hinab in seinen Magen, wo es sich wie ein Stück Blei ausbreitete. 

Er spürte Bess’ Blick auf seinem Rücken, als er den Gang entlang ging, eilig, hektisch, fast gehetzt. Er spürte ihn, bis sich die Aufzugstüren hinter ihm schlossen.

Er konnte nicht.
Er konnte nicht. [/s]