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Dann kommt hier nun also mein Beitrag zum Adventskalender 2020.
Ich hoffe, Ihr habt Spaß beim Lesen.
Geheimmission um Mitternacht
Es war still im Haus. Und dunkel. Einzig der am sternenklaren Nachthimmel leuchtende Vollmond warf seine Strahlen in ein Zimmer. Darin standen zwei Betten. Eines auf der linken Seite des Fensters, das andere auf der Rechten. Das Bett auf der linken Seite war leer. Die Decke war zurückgeschlagen worden, das Laken zerknittert.
Im anderen Bett zeichneten sich die Silhouetten zweier Mädchen ab. Mit geöffneten Augen lagen sie da. Still und hochkonzentriert. Ganz offensichtlich warteten sie auf etwas. Ein braunes und ein grünes Augenpaar starrten jeweils gebannt zu der lediglich angelehnten Zimmertür, durch die das Ticken der großen Standuhr zu vernehmen war, welche unten im Wohnzimmer die Zeit verkündete. ‚Tick-Tack-Tick-Tack-Tick‘ „Wie lange denn noch?“, flüsterte die Kleinere der beiden. „Pst“, kam es lediglich als Antwort und eine beleidigte Schnute wurde gezogen.
Wie lange genau sie noch warten mussten, konnte im Nachhinein keine der Schwestern sagen. Doch irgendwann war es so weit. Das ständige Ticken der Uhr wurde abgelöst durch das dunkle Gongen, welches insgesamt 12x ertönte und den beiden somit verkündete, dass das Warten ein Ende hatte. Es war Mitternacht. Ganz sicher würde der Weihnachtsmann nun bald durch ihren Kamin rutschen und die beiden Strümpfe füllen, welche am Abend mit größter Sorgfalt an dessen Sims aufgehangen wurden. Und die unterschiedlichsten Fragen hatten die Schwestern diesbezüglich bereits beschäftigt. Darunter auch die Folgende: Hatte der Weihnachtsmann wirklich so einen dicken Bauch? Und wenn ja: Wie konnte er dann durch den Kamin passen? Würde er da nicht stecken bleiben? So breit war doch der Kamin in diesem Haus gar nicht. Oder? Doch auch, wenn die Mädchen bei dem Gedanken an einen in ihrem Kamin stecken gebliebenen Weihnachtsmannes kichern mussten, hatten sie doch im Endeffekt beschlossen, ihm zu helfen.
Und wer die Mission „Hilf dem Weihnachtsmann“ an Christmas Eve beim Zubettgehen im Kopf hatte, konnte es sich natürlich nicht leisten, die Augen zuzutun und einfach einzuschlafen. Nicht auszudenken, wenn der Arme sonst die ganze Nacht dort stecken würde und alle anderen Kinder deswegen am Christmas Day ihre leeren Strümpfe vorfinden würden. Nein. Da musste man wach bleiben. Und aufstehen. Selbst, wenn es mitten in der Nacht war.
Folglich standen rasch zwei nackte Fußpaare auf dem Teppich vor dem Bett, bevor sie sich in Bewegung setzten. Doch bevor es hinaus auf den Flur gehen würde, kramte die Jüngere noch in ihrer Spielzeugkiste. Daraus brachte sie nur wenige Augenblicke später einen schwarzen Plastikstab mit weißer Spitze zum Vorschein, dessen Anblick ihre Schwester dazu veranlasste, die Augen zu verdrehen. „Sei nicht albern, Lily“. Der Zauberstab gehörte zu einem Zauberkasten, den die Eltern ihrer jüngsten Tochter zum Geburtstag geschenkt hatten, seit sie so sehr von den Zaubertricks schwärmte, von denen ihr neuer Freund aus der Nachbarschaft ständig erzählte.
Und dann, endlich, verließen die beiden ihr Zimmer. Hand in Hand, sich vorsichtig mit nackten Füßen über den Boden tastend. Das Mondlicht musste ausreichen. Würden sie die Lampen anknipsen, würden sie ihre Eltern aufwecken und dann wären sie schneller wieder in ihren Betten, als ihnen lieb war. Also: „Schsch“, kam es von Petunia, als sie hörte, wie hinter ihr die Treppenstufe knarrte, welche Lily soeben betreten hatte. Warnend den Zeigefinger auf die Lippen gelegt, drehte sie sich zu ihrer Schwester herum, die sich gleichzeitig eine Hand vor den Mund hielt, als würde dies das Holz unter ihren Füßen daran hindern, verräterisch zu knarzen.
En prüfender Blick zur Schlafzimmertür der Eltern folgte und beide atmeten erleichtert aus. Nichts regte sich dort. Also konnten sie weiter gehen. Die Treppe hinunter und ab ins Wohnzimmer. Zum Glück hatte Petunia sich schon in der Vergangenheit sehr gut gemerkt, an welchen Stellen das Betreten der Treppenstufen vermieden werden sollte, denn sie schlich sich gerne in der Nacht heimlich in die Küche, um sich dort Schokolade aus dem Vorratsschrank zu stibitzen. Also konnte sie Lily sehr genau anweisen, wohin sie zu treten hatte.
Im Kamin war das Feuer bereits abgebrannt. Zum Glück. Aber wahrscheinlich kam der Weihnachtsmann auch deswegen immer erst später in der Nacht. Er war ja schließlich nicht dumm. „Ich hab Hunger“, gestand Lily nach einem Blick auf den Teller mit den selbst gebackenen Keksen, die sie eigentlich als Wegzehrung neben dem Glas Milch und der Schüssel mit Möhren auf dem Wohnzimmertisch bereitgestellt hatten. Und schon langte sie zu. Eine Hand voll Kekse – eine kleine Kinderhand wohlgemerkt – würde wohl nicht auffallen, wenn sie fehlen würde.
Der erste Keks wanderte auch sogleich in Lilys Mund. Mit einem genießerischen „Mmmmh“ wurde er weg geknuspert, während ein paar Krümel davon zu Boden fielen. „Lily. Sieh nur“. Petunia hatte sie angestupst und deutete sogleich mit dem Finger in Richtung des Wohnzimmerfensters, an dem sie gerade noch eine dunkle Gestalt vorbei huschen sah. Mit großen Augen starrten beide nach draußen, wo dicke, weiße Schneeflocken zu Boden rieselten. „Der Weihnachtsmann“, hauchte Lily und legte schnell die noch nicht angeknabberten Kekse wieder zurück auf den Teller. Klopfte sich beide Hände an ihrem Nachthemd ab und stolperte im nächsten Augenblick in Richtung des Weihnachtsbaumes. Petunia hatte sie dorthin gezogen. Sie mussten sich verstecken. Der Weihnachtsmann durfte doch nicht wissen, dass sie noch wach waren.
Die Nadeln des Tannenbaumes pieksten schmerzhaft an den nackten Beinen, während die Schwestern sich in die kleine Ecke dahinter drückten. Doch da mussten sie wohl durch und sie blieben tapfer lautlos sitzen, als sie hörten, dass sich die Haustür öffnete. Fragende Blicke wurden ausgetauscht, als auch schon schwere Schritte ins Wohnzimmer stampften. Lily hielt ihren Zauberstab fest umklammert und starrte mit großen Augen auf die schwarzen Stiefel, die sich dem Baum näherten, auf halbem Weg stehen blieben und gleich darauf wieder näher herantraten. „So, so“, sagte eine dunkle Stimme, die den Schwestern irgendwie bekannt vorkam. Ein paar herunter gefallene Kekskrümel knirschten unter den schweren Schritten. Immer weiter drängten sich Petunia und Lily in der kleinen Ecke zusammen, Hand in Hand und den Atem anhaltend. Zu spät bemerkte Petunia, dass ihr nackter Fuss noch hinter dem Baum hervor lugte und zog ihn schnell zurück.
„Petty? Lils? Raus da“.
Langsam, umständlich und hier und da mit einem „Autsch“ begleitet, krabbelten die Schwestern aus ihrem pieksigen Versteck heraus, richteten sich auf und sahen sich ihrem Vater gegenüber. Mit strengem Blick, die Hände hinter dem Rücken versteckt, bedachte er die beiden in Erwartung einer Erklärung. „Wir wollten doch nur auf den Weihnachtsmann warten, damit wir ihm helfen können, falls er in unserem Kamin stecken bleibt“, erklärte Lily bitterernst, während Petunia nickte. Beide Augen ihres Vaters wanderten bezüglich dieser Erklärung in die Höhe, sein linker Mundwinkel zuckte kaum merklich. „Ah ja. Und da dachtet Ihr, Ihr zaubert ihn dann frei“, schlussfolgerte er mit einem Blick auf den Zauberstab, den Lily immer noch in ihrer Hand hielt. Die Kleine nickte mit fest aufeinander gepressten Lippen. Stille entstand, während der Vater so tat, als müsse er überlegen. Nichts weiter als das Ticken der Standuhr war zu hören, bis er endlich wieder sprach. „Nun. Ich mache Euch einen Vorschlag. Ich bleibe hier und passe auf den Weihnachtsmann auf, während Ihr wieder schlafen geht. Ihr müsst doch morgen fit sein“. Das ließen sich Petty und Lils nicht zweimal sagen und schon huschten sie aus dem Wohnzimmer hinaus, die Treppe hinauf und ab in ihr Zimmer. „Hoffentlich stecken morgen früh nicht beide im Kamin fest“, sorgte sich Lily und nach einem kurzen Blickwechsel huschten sie kichernd in ihre Betten.