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Und hier kommt Türchen Nummer 4 für Euch.
Ein ganz besonderer Weihnachtsbaum
„Wie bitte?“
Mit großen Augen sah sie zu ihm hinunter. Da stand er, vor der Leiter, auf welcher sie stand und blickte abwartend zu ihr hinauf. Hatte sie sich da etwa verhört? „Was Du Dir zu Weihnachten wünscht“, wiederholte er seine Frage geduldig mit einem freundlichen Lächeln. Belle sah sich in dem großen Speisesaal um, in welchem sie soeben damit beschäftigt war, die Schränke abzustauben. Seit einer gefühlten Ewigkeit wohnte sie nun in diesem Schloss und tat Tag ein, Tag aus immer wieder dasselbe. Ohne, dass sich in ihrem Leben viel änderte. Und nun fragte er sie auf einmal, was sie sich zu Weihnachten wünschte? Woher kam dieser plötzliche Sinneswandel?
„Ich … Nun …“, setzte sie an, doch wollte ihr so spontan keine passende Antwort einfallen. Ihr Blick fiel auf die ihr entgegengestreckte Hand. Offensichtlich eine Aufforderung, zu ihm hinter zu kommen. So steckte sie den Staubwedel in ihre Schürze, kam ein paar Sprossen auf ihn zu und ihre Finger umschlossen die Seinen, bis sie schließlich direkt vor ihm auf dem Boden stand. Und ihn ansah. Mehrere Wimpernschläge lang verloren sich ihrer beider Augen ineinander, bis Belle schließlich wieder zu sich fand.
Seine Hand loslassend entfernte sie sich, was ihn dazu veranlasste, wieder ernster dreinzublicken und sofort wieder unnahbarerer zu wirken. Ganz so, wie sie ihn kannte. Wenn man hier überhaupt von ‚kennen‘ sprechen konnte. „Nun“, griff sie das Gespräch wieder auf, schritt durch den Saal und sah sich um. Ihr Blick fiel aus dem Fenster hinaus. Seit einer Weile war dies endlich möglich, hatte sie es doch geschafft, ihn dazu zu bewegen, die Vorhänge tagsüber offen zu lassen. Es gefiel ihm nicht. Aber er hatte sich dazu durchgerungen, sich von ihr überzeugen zu lassen.
Belle verlor sich in der weißen Winterwelt, die sich vor ihr erstreckte. In dicken Flocken rieselte der Schnee zum Boden hinab. Bedeckte das Schloss, die Ländereien und die Bäume, die in ihre weißen Kleider gehüllt so zauberhaft und wunderschön aussahen. Und Belle wusste, was sie sich zu Weihnachten wünschen wollte. „Ich wünsche mir einen Weihnachtsbaum“.
Als sie sich endlich wieder zu ihm umwandte, um seine Frage zu beantworten, stand er da, mit leicht schief gelegtem Kopf, ein paar Mal ungläubig mit den Wimpern zuckend. Er konnte ihr alles besorgen, was sie nur wollte und Belle wünschte sich einen Baum? „Aber er soll nicht sterben müssen, nur weil ich mich daran erfreuen will“, warf sie noch hinterher und langsam, ganz langsam nickte Rumpelstilzchen. „So sei es, Verehrteste“. Eine kurze Verbeugung folgte, dann schritt er zur Tür, warf seinen Mantel um und verließ das Schloss.
Zurück blieb eine irritiert dreinblickende Belle, immer noch den Staubwedel in der Hand haltend. Wie praktisch wäre es doch manchmel, die Fähigkeit zu besitzen, Rumpels Gedanken lesen zu können. Doch das konnte sie nicht. Und so zuckte sie mit den Schultern und nahm ihre Arbeit wieder auf. Zu Weihnachten sollte das Schloss blitzblank sein und von seiner schönsten Seite erstrahlen. Und um das zu schaffen, hatte sie noch genau diesen Tag Zeit.
Es war noch dunkel am frühen Morgen, als Rumpel ungeduldig, mit den Fingerkuppen gegeneinander trommelnd, am Waldrand vor dem Schloss wartete. Bis er hörte, wie sich jemand ihm näherte. „Na endlich“, kam es leise über seine Lippen. Im Schein seiner Fackel erkannte Rumpel den jungen Mann, den er noch am Tag zuvor mit einem ganz besonderen Auftrag losgeschickt hatte. Doch seine Laune hielt sich in Grenzen. Mit knorriger Hand wedelte er in Richtung des Baumes, welchen der Bursche hinter sich über den Boden schleifte. „Was ist das?“ Sein Gegenüber sah von Rumpelstilzchen zu dem Baum und wieder zurück. „Der Baum“.
Rumpel seufzte und antwortete in betont ruhigem Tonfall: „Ich sehe, dass das ein Baum ist“. Mit aneinandergelegten Fingerspitzen schritt er eine Runde um besagtes Objekt herum, bevor er wieder zum Stehen kam. „Das war nicht der Auftrag“. „Aber …“ Doch Rumpel schnitt dem jungen Mann das Wort ab. „Ich sagte, Du sollst einen Tannenbaum finden. Nicht, Du sollst einen fällen“. Das war nicht, was Belle sich wünschte. Sie hatte extra erwähnt, dass der Baum nicht sterben durfte, nur damit sie ihn bewundern konnte.
Aber der Schlossherr wäre nicht Rumpelstilzchen, wenn er mit solchen Situationen nicht umzugehen wüsste …
So führte Rumpel an Heiligabend Belle in den Schlossgarten, in dessen Mitte der wohl schönste Weihnachtsbaum aus dem Boden ragte, den sie je gesehen hatte. Geschmückt mit goldenen Girlanden und glänzenden Kugeln. Auf der Spitze leuchtete – wie sollte es auch anders sein – ein Weihnachtsstern und erhellte den gesamten Schlossgarten in einem warmen, romantischen Licht.
Stolz betrachtete er sein Werk und bemerkte, wie Belle sich neben ihm daran erfreute. „Oh Rumpel, er ist wunderschön“. Ein wenig überrascht war er aber doch, als sie ihm um den Hals fiel. „Vielen Dank“. Zögerlich legte er seine Arme um ihre Taille und betrachtete mit einem Lächeln diesen ganz besonderen Baum, der tief im Boden des Schlossgartens verwurzelt dastand und Belle auch nach Weihnachten noch lange erfreuen würde. Über ihre Schultern hinweg betrachtete er das üppige Nadelkleid und vor allem eine Stelle in der Mitte des Stammes, an der ein paar unnatürlich aussehende Verwachsungen ein knorriges Gesicht zeigten. Augen, die sehen konnten. Eine Nase, die riechen konnte. Ein Mund, der nicht sprechen konnte. Ein junger Holzfäller, dessen Tage zwar nicht gezählt aber fortan sehr schleppend und zäh erscheinen würden.