21.08.2020, 11:13
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ANMERKUNG: Ich habe Minerva noch nie gespielt, aber ich mag sie sehr gern. Der Text entstand nun in einer halben Stunde, ohne ihn groß liegen und "wirken" gelassen zu haben. Ich wollte ein Gefühl einfangen, ein Gefühl verarbeiten. Über Rückmeldung würde ich mich freuen. #SummertimeSnapshot #challenge
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Minerva ließ sich treiben. Der Pulk von Muggeln um sie herum nahm sie mit sich, wie die Strömung eines breiten Flusses. Sie achtete darauf, niemanden anzurempeln oder selbst ein Hindernis auf dem Weg eines anderen zu sein und überraschenderweise war das ziemlich einfach, wenn man nicht darüber nachdachte und kein Ziel vor Augen hatte.
Ein Seufzen folgte auf diesen Gedanken und dabei sog Minerva den Duft ein, welcher so unverkennbar war, dass sie sich den Anflug eines Lächelns nicht verkneifen konnte. Der Duft von Zuckerwatte, gebrannten Mandeln und Lebkuchen vermischte sich und lag wie eine Decke über der Menge. Hier und da gesellte sich der Duft von Glühwein oder Bier und gegrillten Würsten hinzu. Bei diesen Gerüchen, dieser speziellen Mischung, hatten seine Augen damals einen ganz verzückten Ausdruck angenommen.
»Minnie! Das musst du probieren!« Auffordernd hielt er ihr einen Fetzen hin, der klebrig und rosa war. Es sah aus, als würde es ganz fürchterlich kleben. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich…« Ein Blick in sein Gesicht, welches dem eines aufgeregten, kleinen Jungen glich, ließ sie weich werden. »Dann gut,« gab sie nach und ließ sich die klebrige, rosa Masse zum Mund führen. Es roch verteufelt süß und bei Merlin!, das war es auch. Sie verzog das Gesicht und hielt sich die Hand vor dem Mund, während sich ihre Kiefer verklebten und es zwischen ihren Zähnen knirschte. »Albus! Das ist abscheulich süß!« Dieser lachte jungenhaft und schob sich eine erschreckende Menge davon zwischen die Lippen. »Das ist Zuckerwatte, Minnie. Ist das nicht fantastisch? Zu-cker-wa-tte!« Jede Silbe schien er auszukosten.
Sie erinnerte sich daran, als wäre es noch gar nicht so lang her. Diesen ‘einen Tag ohne zu zaubern’, zu welchem Albus sie überredet hatte. Dieser ‘eine Tag ohne zaubern’ und mit zu viel Zuckerwatte, welche sie später aus seinem Bart hatten kriegen müssen. Wie sie mit ihm geschimpft hatte, wusste sie heute noch. Albus hatte noch viele Jahre davon gesprochen und jedes Mal wieder beteuert, dass es das wert gewesen war. Selbst als Poppy ihm einen äußerst unschmackhaften Trunk gegen seine Zahnschmerzen hatte geben müssen. »Das war es wert, Minnie.« Sie wünschte, sie könnte diesen ungeliebten Spitznamen noch einmal von ihrem guten Freund hören.
Minerva wich einer Gruppe aufgeregter Kinder aus, welche mit Plüschtieren und Heliumballons in den Händen an ihr vorbei rannten. Vor ihr ragte das Riesenrad in die Höhe. Bunte Lichter funkelten und verzierten die äußere, hellgraue Verkleidung und tauchten den Jahrmarkt in ganz besonderes Licht. Schon damals war es das Einzige gewesen, das sie überzeugt hatte dieses bunte Treiben aufzusuchen und scheinbar hatte sie ihr Weg unbewusst dorthin geführt. Seit ihrem letzten und bisher einzigem Besuch vor so vielen Jahrzehnten hatte sich vieles verändert. Die Attraktionen und Spielbuden waren mit der Technik gegangen. Alles war größer, lauter, bunter und hatte dadurch einen Teil seines Reizes verloren. Ein Umstand, der nicht zu ändern war. Nichtsdestotrotz fragte sich Minerva, wo die Entwicklung der Muggel all das noch hinführen sollte und ob Jahrmärkte noch in 100 Jahren so populär wären, wie damals und heute. Da überwiegend junge Leute und Kinder die Angebote des Jahrmarkts konsumierten, waren Albus und sie schon damals aufgefallen wie bunte Hunde. »Guckt euch mal den Opa da an! Da auf dem Pferdekarussell!« Und Albus hatte ihnen fröhlich zugewunken, während Minerva am liebsten vor Scham im Boden versunken wäre. Mit hochrotem Gesicht hatte sie auf dem dunklen Pferd gesessen, so wie eine Dame es natürlich tat, und sich an der Stange festgeklammert. Damals hatte sie ihn dafür verflucht. Heute wusste sie, warum er das getan hatte. Warum er sie eingeladen und mitgezerrt hatte. Warum er keine Widerrede geduldet hatte.
Das Riesenrad ragte nun unmittelbar vor ihr in den langsam dunkler werdenden Himmel. Sie erstand ein Fahrtticket (mit Muggelgeld! Minerva hatte dafür ihre Großnichte fragen müssen, denn wie bei Merlins Bart kam man an Muggelgeld?) und trat dann an einen nahegelegenen Wagen heran, welcher Süßigkeiten verkaufte. Eine kleine Tüte mit noch warmen, gebrannten Mandeln tauschte den Besitzer und verschwand in ihrer Handtasche.
Albus’ tänzelnde Schritte hatten sie sicher durch die Muggelmenge und an eine Bratwurstbude geführt. »Setz dich. Ich bin gleich zurück.« Doch Minerva protestierte. »Albus! Du lässt mich hier jetzt nicht si— … Albus!« Zischend hatte sie ihm hinterher gesehen, sein keckes Zwinkern und das breite Grinsen genau erkennend. Da Widerworte aber gar keinen Unterschied machten, hatte sie sich auf eine wackelige Bank gesetzt, ihre Handtasche auf ihren Schoß gepresst und gespürt, wie unwohl sie sich fühlte. Ein Tag ohne zaubern kam ihr vor wie eine Bestrafung. Wieso sollte sie ihr Talent nicht nutzen? Und wieso war Albus überhaupt auf diese Idee gekommen? Das war Unsinn!
»Hier, meine Liebe. Lass es dir schmecken.« Zwei Bratwürste mit Senf und je einer halben, in ein Dreieck geschnittenen Scheibe Brot und zwei Krüge Bier waren auf dem Tablett, welches Albus sicher zu ihnen balancierte. »Ich habe gar keinen Hunger«, sagte sie, doch ihr Begleiter sah sie skeptisch an. »Wir sind schon den ganzen Tag unterwegs. Du bist hungrig.« Mit diesen Worten setzte er sich ihr gegenüber, seinen langen Bart dabei schützend an sich drückend, damit er nicht auch noch im Senf landete. »Das merke ich an deiner Stimmung, liebe Minerva.«
Sie schnappte nach Luft. »Was bildest du dir—« Albus unterbrach sie mit erhobener Hand und sagte freundlich: »Nimm es mir nicht übel, Minnie, aber wenn du hungrig bist, dann hast du ziemlich schlechte Laune. Und jetzt iss. Sonst wird es kalt. Und wenn wir fertig sind, fahren wir mit dem Riesenrad!«
In ihrer Gondel war es still. Minerva konnte ihr eigenes Gesicht in der Scheibe sehen. Vieles hatte sich seit dem letzten Mal verändert, nicht nur ihr Äußeres.
Hogwarts befand sich noch im Wiederaufbau. Nicht nur das Gebäude musste wiederhergestellt werden, auch die Lehrerschaft wies große Lücken auf. Viel zu viele gute Zauberer und Hexen hatten ihr Leben im Kampf gegen Voldemort gelassen. Viel zu viele sinnlose Opfer. Traurigkeit, Ohnmacht und Verlust waren allgegenwärtig und greifbar. Doch trotz allem war Minerva heute hier und ließ sich im Riesenrad nach ganz oben fahren. Natürlich hatte sie auch einfach ihren Besen nehmen und über die Stadt fliegen können, aber sie war aus einem bestimmten Grund hier. Sie hatte es versprochen.
Irgendwann…, hatte sie gesagt, würde sie mit ihm noch einmal zum Jahrmarkt gehen. Irgendwann… Minerva war alt genug um zu wissen, dass sie viel zu oft in dieser Zeitangabe gedacht hatte. Irgendwann… Ein schmerzhafter Kloß erschwerte ihr das Schlucken. Eilig zog sie ein Stofftaschentuch aus ihrem Ärmel und hielt es sich vor Mund und Nase, als das erste Schluchzen sie überwältigte.
Minerva weinte - und sie ließ es zu.
Tränen, angesammelt während turbulenter Jahrzehnte, ergossen sich über ihr Gesicht, eingerahmt von losen, ergrauten Strähnen. Tränen, angereichert durch Verlust, Zorn und Hilflosigkeit, tropften ihr Kinn herab auf ihren Schoß; durchnässten das Taschentuch und den Stoff ihrer Kleidung. Tränen, groß und zahlreich und stellvertretend für so viele Erinnerungen, füllten die Leere, welche in ihr herrschte und nach und nach fühlte sie sich besser.
Lange Zeit hatte sich Minerva keinen Anflug von Schwäche erlauben dürfen. Viel zu viele Augenpaare waren auf sie gerichtet gewesen und die Gemälde im Schloss tuschelten viel zu gern. Also hatte sie jeden Drang zu weinen heruntergeschluckt - bis heute.
Mit einem letzten Seufzen tupfte sie sich ihre Augen trocken, atmete zittrig aus und ließ das Gefühl der Ohnmacht damit gehen. Unter ihr erhellten die Lichter der Stadt die Dunkelheit und eine tiefe Melancholie legte sich in die Gondel.
»Albus«, sprach sie in das Zwielicht, »du hattest recht.« Mit noch immer zittrigen Fingern öffnete sie die Tüte mit den warmen Mandeln und legte sich eine auf die Zunge. »Die Muggel haben schon so manche gute Sache für sich entdeckt.« Sie lehnte sich in den Sitz, genoss die angenehme Süße und das Gefühl der Erleichterung, nachdem sich ihre Emotionen wieder reguliert hatten.
Damals hatte sie ihn nicht verstanden, aber heute war ihr klar, warum Albus immer wieder Ausflüge in die Menschenwelt unternommen hatte. Warum er manchmal für einen Tag aufs zaubern verzichtet hatte.
Es war befreiend, sich einmal nicht mit dem Chaos der Welt zu beschäftigen; etwas Neues zu erleben; sich gehen zu lassen. Wenn auch nur für einen Tag.
»Es tut mir leid, dass diese Erkenntnis so spät kommt«, flüsterte Minerva in die Gondel hinein, wohlwissend, dass ihr dieses Mal niemand verzeihen oder ihr antworten würde. »Es tut mir leid, dass ich so lange gebraucht habe.« Wäre Albus nun hier, hätte er ihre Hand genommen und sie sachte gedrückt. Doch er war es nicht und würde es nie wieder sein.
Also legte sie ihre Rechte auf ihre Linke und stellte sich vor, es wäre so wie damals.
Wenn auch nur für einen Tag.