30.01.2021, 01:21
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Immerhin hatte sie lange genug geschlafen, um sich gleich zum Joggen umziehen zu können. Als sie aufgewacht war, hatte Gansey ihr mit einem kurzen Blick zum Fernseher gedeutet, dass die Kamera wieder aktiv war, woraufhin Blue den Reflex unterdrücken musste, die Decke sofort bis unter ihr Kinn zu ziehen. Das Gespräch war ganz natürlich auf eine gemeinsame Runde Jogging gekommen und so liefen sie nun beide hier draußen nebeneinander her.
Die Abenddämmerung hatte eingesetzt und die Luft war erträglicher geworden. Was nicht hieß, dass Blue nicht trotzdem schwitzte; sie waren immer noch in der Wüste.
Ihr Hotel lag direkt am Strip, so dass sie die Straße geradeaus joggend an vielen der anderen großen Hotels vorbei kamen. Die Gegend auskundschaften. Und Blue zumindest hoffte immer noch darauf, einen der anderen beiden zu treffen, nachdem um diese Zeit besonders viele Jogger unterwegs waren. Die meisten hatten Kopfhörer auf, hörten wahrscheinlich Musik beim Laufen – und nachdem Dick und Jane sich nicht ständig miteinander beschäftigen konnten, Frischverheiratete hin oder her, hatten sie es den anderen Joggern einfach nachgetan. Ganseys Kopfhörer waren verhältnismäßig groß und old-school, Blues waren einfache Stecker mit Kabel. Wenn sie vor sich hin murmelte beim Laufen konnte sie so tun, als wären es Songtexte.
„Adam“, murmelte sie. Noah hatte ihnen erklärt, dass er zwar alles mithörte, die Verbindung zum Rest ihrer Teammitglieder allerdings stimmaktiviert war.
Und es schien zu funktionieren. „Oh, hey, Jane. Kannst du sprechen?“, hörte sie Adams Stimme klar und deutlich, wenn auch etwas außer Atem, in ihrem linken Ohr.
Ein breites Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht und sie sah kurz neben sich zu Gansey, der ganz aufs Laufen konzentriert schien. „Ja. Du auch? Wie ist euer Status? Wo bist du?“
„Joggen. Ich glaube, ich seh euch beide sogar ein paar hundert Meter weiter. Bei uns lief alles reibungslos.“
„Keine Zuhörer?“
„Keine. Alles sauber.“
„Bei uns schon. Jemand weiß, dass wir hier sind. Ich frage mich immer noch, was jemand so plötzlich gegen die Organisation haben kann.“
„Vielleicht sind gewisse Praktiken einfach nicht mit dem Gewissen vereinbar? Oder irgendjemand hat ihm ans Bein gepinkelt?“
Ein eisiger kleiner Schauer lief Blue das Rückgrat hinunter. Wie seelenruhig Adam durchaus logische Gründe anführte – dafür, dass jemand zum Maulwurf würde. Ob derjenige sich einfach nur an F.O.X. rächen wollte oder eben unlautere Methoden und Praktiken aufgedeckt hatte, war ja leider auch nicht bekannt. Einzig, dass Informationen wohl nach draußen geschmuggelt worden waren – und dass der Übergabetermin bereits feststand. Wer die Spieler in diesem Spiel waren, um das herauszufinden waren sie hier. Aber was, wenn es Adam war, der so klar nachvollziehen konnte, warum jemand überlief? „Aber welche Praktiken sollen das sein? Außer Callas Wortwahl manchmal…“
„Stimmt. Calla…“ Sie konnte das amüsierte Grinsen heraushören, bevor Adam seufzte: „Im Ernst, ich weiß es nicht.“
Blue wollte ihm unbedingt glauben. Wollte glauben, dass diese Worte ehrlich gemeint waren, dass Adam es genauso wenig wusste und verstand wie sie selbst. Aber dafür waren sie hier; um es herauszufinden. Und den Maulwurf zu stoppen!
„Blue?“
„Mhm?“
„Passt auf euch auf.“
„Ihr auch. Over and out.“
„Jane, schau mal, das Excalibur. Lass uns da doch mal rein schauen!“, kam es von Dick neben ihr, als er auch bereits abbog.
~*~*~*
Eins musste sie Gansey lassen: Er hatte einen erstaunlich guten Spürsinn für diejenige Art Informationen, die erst gefunden werden wollten. Auch wenn sie noch keine Ahnung hatte, ob sie auf der richtigen Spur waren, waren die Details doch alle äußerst verdächtig.
Als sie das Excelsior Hotel betreten und die mittelalterlich eingerichtete Lobby durchquert hatten, hatte Blue im ersten Moment der Kopf geschwirrt. Das Klingeln, Rauschen, Rattern von unzähligen einarmigen Banditen, dahinter die vielen Tische mit Roulette, Blackjack, Poker, Craps und noch ein paar anderen Glücksspielen, deren Namen sie gar nicht kennen wollte – alles hallte in ihren Ohren; dazu der Geruch von abgestandenem Zigarettenrauch und eine schummrige Irgendwie-Tag-Beleuchtung, die stark eingestellte Raumklimatisierung. Sie wusste, wie Casinos funktionierten, wie sie eine Sucht schufen und die Leute an den Automaten und Tischen hielten. Aber der Kontrast zur Abenddämmerung am Strip draußen hätte größer nicht sein können.
Hand in Hand und mit angemessenem Staunen hatten Dick und Jane also das Casino durchquert und sich im Gebäudekomplex ein wenig umgesehen. Blue fand es immer noch höchst amüsant, dass sie an einem Restaurant namens „Dick’s Last Resort“ vorbei gekommen waren. Beinahe hätte sie Gansey auch dort hinein bekommen. Beinahe.
Was sie schließlich gefunden hatten, war eine feierliche Ankündigung für eine Hochzeit am kommenden Donnerstagnachmittag. An und für sich nichts Ungewöhnliches, schließlich heirateten in Las Vegas ständig Leute. Der Name auf dieser Ankündigung allerdings hatte sie beide überzeugt, dass das genau diejenige Veranstaltung war, auf der die Übergabe der Liste stattfinden würde.
Auf dem Weg zurück zu ihrem eigenen Hotel hatte Gansey noch Adam und Lynch angefunkt und als würde er mit einem guten Freund telefonieren in bester Dick-Glendower-Manier von dieser wundervollen Hochzeit erzählt, bei der er ja zu gerne dabei wäre, jetzt wo er das gerade erst selbst hatte erleben dürfen bli bla blubb.
„Noah, was hast du für mich?“, raunte sie, als sie aus der noch laufenden Dusche stieg und ein Handtuch um ihren Körper schlang. Die Wasserverschwendung tat ihr ehrlich leid, erst recht hier in der Wüste, aber es war die einzige Möglichkeit sicherzugehen, dass nichts von dem, was sie sagte, von der Wanze unter der Couch aufgezeichnet würde.
In ihrem linken Ohr hörte sie klar und deutlich Noahs Stimme. „Könnte das nicht alles ein großer Zufall sein?“ fragte er deutlich amüsiert. „Dass ihr zufällig gleich am Ankunftsabend in das richtige Hotel stolpert und dort zufällig eine Ankündigung für eine Veranstaltung findet, bei der auch noch ein sehr verdächtiger Name auftaucht? Nope, ich glaube nicht, dass das Zufall ist.“
Blue verzog die Lippen zu einem ironischen Grinsen. Begann ihre Haare mit einem zweiten Handtuch trocken zu rubbeln. „Wir wissen also Zeit und Ort und wir wissen auch einen Namen. Nur dass der keiner von uns ist.“
„Korrekt. Er ist eher sowas wie ein Söldner für die Seite, die das richtige Angebot hat, und in so einige dreckige Geschäfte verwickelt. Wenn mich nicht alles täuscht, dann hat F.O.X. auch schon einige davon auffliegen lassen in der Vergangenheit.“
„Womit wir auch ein Motiv hätten“, warf Blue ein.
„Noch wissen wir nicht, ob er nur Mittelsmann ist oder selbst die Liste will.“
„Hm, ich denke nicht, dass er flüssig genug ist, um die Liste für sich selbst zu kaufen. Also steckt jemand anderes dahinter. Aber möglicherweise ist der Deal über ihn zustande gekommen.“ Blue musste unwillkürlich kichern. Ihre Haare standen kreuz und quer. Mit großer Sorgfalt bürstete sie sie aus und eng am Kopf nach hinten.
„Was ist daran so lustig? Ich finde das eher besorgniserregend, dass da noch jemand Drittes involviert ist.“
„Ach nichts, meine Haare sahen gerade nur wild aus“, klärte sie Noah unnötigerweise auf.
„Oh… Liegt Kings Brille irgendwo? Dann könnte ich auch was sehen.“
„Nein, und ist ja auch nicht wichtig“, wiegelte sie ab. Nahm die brünette Langhaarperücke auf, die sie sich vorhin zurecht gelegt hatte, und bürstete diese ebenfalls – bevor sie sich die Perücke vorsichtig aufsetzte und im Spiegel begutachtete. „Zurück zum Thema. Wir sollten auf jeden Fall die Gästeliste bei dieser Hochzeit mal genau durchleuchten. Kommst du da irgendwie ran?“
„Ich kann’s versuchen. Ich meld mich, wenn ich mehr hab.“
„Danke, Noah. Over and out.“
Sie zupfte noch ein wenig den Pony zurecht, war aber mit dem Gesamtergebnis sehr zufrieden.
Als es an der Badezimmertür klopfte und Gansey den Kopf herein steckte. „Jane?“
„Ja, Schatz?“ Blue deutete ihm, hereinzukommen und die Tür hinter sich wieder zu schließen, was er auch tat.
„Wie sieht’s mit deinem Appetit aus? Wollen wir uns in dieser wahnsinnig aufregenden Stadt mal was zu essen suchen?“, fuhr er in etwas lauterem Ton mit dem Gespräch fort.
„Mmmmh, wir haben doch kaum was gemacht bisher“, gab Blue in Janes verführerischstem Südstaaten-Drawl zurück.
Das würde wohl reichen. Und Gansey schien das ebenfalls so zu sehen. Er trat zu ihr, vielleicht ein wenig näher als nötig, und raunte in normalem Ton: „Ich mag deine natürlichen Haare lieber.“
Blue verdrehte die Augen und legte die Perücke zurück in die Tasche neben dem Waschbecken. „Ich auch. Aber deswegen bist du nicht hier, oder?“
„Wir bekommen wahrscheinlich eine Einladung zur Hochzeit“, ließ er sie ohne große Präambel wissen.
Blues Augenbrauen flogen in die Höhe und über den Spiegel begegnete sie fragend Ganseys Blick. Er nahm die Brille ab, massierte seine Nasenwurzel, bevor er ihren Blick direkt und beinahe stolz erwiderte. In einer scheinbar unbewussten Geste fuhr er sich mit dem Daumen über die Unterlippe. Blue wusste nicht, warum diese eine kleine Geste sie in diesem Moment so fesselte.
„Okay, King, ich bin ganz Ohr. Wie bist du so schnell da rangekommen?“ Da war es wieder, dieses Misstrauen, dass Gansey der Maulwurf sein könnte. Oder zumindest mit ihm unter einer Decke steckte. Und das ließ sie ihn auch spüren.
„Ronan kommt an so ziemlich alles heran oder kann es fälschen.“
Ronan. Ronan Lynch. Sie wusste extrem wenig über Codename Greywarens Hintergrund; lediglich das, was eben über seine Freundschaft zu Gansey gemunkelt wurde, und das, was in ihrem Mission-Briefing gestanden hatte: Ja, darin war etwas von Dokumentenfälschung vermerkt gewesen, aber dass er so schnell arbeitete… Deshalb war er also Teil dieses Teams. Auch wenn es ihn nicht wie in Ganseys Augen über jeden Zweifel erhaben machte… „Okay“, murmelte sie zurück, nickte.
„Okay.“
Für einen langen Moment standen sie einfach nur so da, blickten sich über den Spiegel an. Was Blue erwartete, in seinen Augen zu finden, wusste sie nicht so recht, aber wegsehen wollte und konnte sie auch nicht.
Schließlich brach Gansey den Blickkontakt ab, räusperte sich. „Du solltest mir wahrscheinlich am besten einen Knutschfleck beibringen, so dass es wirklich aussieht, als hätten wir hier drinnen gerade eine heiße Make-out-Session gehabt.“
Blue nickte nur, unfähig gerade einen Ton herauszubringen. Es war ein logischer und guter Gedanke und auch absolut nicht ungewöhnlich. Aber wurde er da gerade leicht rot oder bildete sie sich das im unvorteilhaften Licht des Kosmetikspiegels nur ein?
Sie drehte sich zu ihm um und ging ganz methodisch an seinem Pulspunkt zu Werke.
Gansey stand still da und es war etwas, wofür Blue ihm dankbar war, da es den Knutschfleck deutlich weniger emotional auflud, als das hätte der Fall sein können. Als sie fertig war, lehnte er sich noch etwas dem Spiegel entgegen und zog sein Polohemd zur Seite, um einen besseren Blick auf den dunklen Fleck an seinem Hals werfen zu können, ihn zu begutachten.
Schließlich schien er zufrieden und mit einem neutralen Lächeln fand Blue sich wieder seinem Blick gegenüber. „Also, Essen? Wo willst du hin?“
Sie merkte, wie mit diesen Worten Anspannung von ihr abfiel, von der sie gar nicht wahrgenommen hatte, dass sie dagewesen war. Ein schelmisches Grinsen fand seinen Weg auf ihre Lippen. „Ich wüsste da schon ein Lokal…“
(tbc in Teil 5)